Der Anschlag mit Sprengstoff – Drohnen auf Maduro und Teile seines Kabinetts und Generalstabs hat heftige Kontroversen über seine Authentizität ausgelöst. Auf der einen Seite die Mainstream – Medien und die venezolanische Opposition, die daran zweifeln, ob das Attentat überhaupt stattgefunden habe oder sogar behaupten, die Regierung selbst hätte es ausgeführt. Auf der anderen Seite die Anhänger*innen des Chavismus, die an einen Mordversuch glauben und sich über den Doppelstandard empören, der Tag aus, Tag ein den Terrorismus verurteilt, aber süffisant darüber witzelt, wenn es einen politischen Gegner trifft. Wir haben hier eine kleine Denkübung veranstaltet, die es erleichtern soll, sich eine Meinung dazu zu bilden, ob es sich um einen wirklichen Anschlag auf die chavistische Regierung handelt oder um eine “false flag operation”, die die Regierung zu politischen Zwecken selbst organisiert hat: Beide Positionen stellen ihre Argumente dar, am Schluss wird abgewogen.
“Das angebliche Drohnen – Attentat ist von der Regierung selbst inszeniert!”
– “Es macht doch gar keinen Sinn, Maduro umzubringen. Wenn Maduro tot wäre, würde sofort ein anderer das Kommando übernehmen, wahrscheinlich Diosdado Cabello, und im Vergleich zu dem ist Maduro ein nettes Kerlchen, eigentlich der ideale politische Gegner: Nicht besonders intelligent, tollpatschig und vollkommen unfähig, das Land zu regieren. Der Chavismus wäre durch das Ausfallen von Maduro überhaupt nicht in Gefahr, und sein Tod würde die chavistische Basis, die von ihrer Führung weitgehend enttäuscht ist, wieder stärker an das Projekt binden, weil er einen Märtyrer schafft. Und die rechte Gruppe um Cabello würde sich ins Fäustchen lachen. Die Opposition kann also kein Interesse an einem Mord Maduro’s haben.”
– “Der Chavismus braucht interne Kohäsion und einen Vorwand für Repression, um die von Maduro angekündigten grossen Reformen durchzusetzen, die ab dem 20. August in Kraft treten sollen. Der vermeintliche Anschlag ist ein grosses Ablenkungsmanöver, um die nötige Stimmung zu schaffen, um die erwarteten Proteste gegen diese Reformen niederzuschlagen.”
– “Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass der Chavismus bei der Ausführung des Attentats selbst seine Hände im Spiel hatte. So sind zwei der vermeintlichen Attentäter ehemalige Mitglieder der Widerstandsgruppe soldados de franela (“T-Shirt-Soldaten”) um den Ex-Polizisten Oscar Pérez, der einige spektakuläre Aktionen ausgeführt hat und dann in einem Schusswechsel mit Sicherheitskräften Anfang dieses Jahres getötet wurde. Oscar Pérez selbst aber hatte Ende letzten Jahres noch per Twitter vor diesen beiden Männern gewarnt, sie seien unzuverlässig und hätten dem Chavismus zugearbeitet.”
– “Die Attentäter haben sich doch angeblich minutiös und mit kompetenter Hilfe von Fachleuten auf den Anschlag vorbereitet. Wie kann es sein, dass sie dann nicht wussten, dass bei Veranstaltungen der Regierung von den Sicherheitskräften Störsender eingesetzt werden, die die Drohnen in der Nähe der Präsidentenbühne ausser Kontrolle geraten lassen? Das müsste heutzutage doch ein Sicherheitsstandard sein – warum wussten sie nichts davon?”
– “Schon Stunden nach dem Anschlag war das ganze Komplott aufgedeckt, die meisten Täter gefasst und geständig. Wie praktisch! Ausserdem war Maduro selbst nie in Gefahr. Das sieht doch sehr danach aus, dass das ganze eine Inszenierung war.”
– “Das gefilmte Geständnis von Juan Carlos Monasterios alias Bons scheint unecht, er plaudert lässig, sein Gesicht wird nicht gezeigt. Es scheint, dass da jemand freiwillig seine angebliche Beteiligung gesteht, der selbst nicht in Gefahr ist oder bedroht wird. Ein Schauspiel?”
“Der Anschlag war authentisch”
– “Es gibt für den Chavismus keinen politischen Anlass, um einen Anschlag auf Maduro und die militärische Führung zu inszenieren. Der Chavismus hat vor kurzem die Wahlen gewonnen, die Opposition hat sich im grossen und ganzen verabschiedet, im Land herrscht eine resignierte Stimmung, von Aufstand und Rebellion ist weit und breit nichts zu spüren. Ausserdem hat der Chavismus alle staatlichen Institutionen fest unter seiner Kontrolle, rechtstaatliche Mechanismen sind ausgehebelt, die Justiz ist gefügig, die Repressionsorgane machen, was sie wollen, ohne noch auf irgendwelchen institutionellen oder öffentlichen Widerstand zu stossen. Es gibt keinen Grund für den Chavismus, eine Stimmung erzeugen zu wollen, in der der Staat Gesetze und Repression verschärfen könnte, wie es beispielsweise in den USA nach den Anschlägen vom 11.9. der Fall war. Der Staat kann sowieso tun und lassen, was er will, es gibt keine relevanten Proteste mehr dagegen. Deshalb macht es auch keinen Sinn, einen Anlass dafür zu schaffen.”
– “Die Bilder des vereitelten Anschlags haben vielmehr für ungünstige Werbung gesorgt: Hunderte in Panik auseinanderstiebende Soldaten bieten nicht das Bild der Stärke, das der Chavismus von sich zeigen will. Der Eindruck war, dass die Regierung angreifbar ist.”
– “In ihrem ersten Tweet Stunden nach dem gescheiterten Anschlag behaupten die Soldados de Franela, dass sie versucht hätten, Maduro zu töten, dass die Drohnen mit C4 – Sprengladungen aber von Sicherheitskräften abgeschossen worden seien. Tatsächlich wurden sie aber nicht abgeschossen, sondern mithilfe von Störsendern vom Kurs abgebracht und gesprengt. Ausserdem kann C4 durch Gewehrschüsse nicht detoniert werden, es braucht dafür Initialzünder (mal ganz abgesehen davon, dass es wirklich nicht ganz einfach wäre, Drohnen im Flug abzuschiessen). Nun könnte man die Falschangabe der T-Shirt-Soldaten in ihrem Communiqué damit erklären, dass sie nicht wussten, warum die Drohnen explodierten, bevor sie ihr Ziel erreicht hatten, weil sie ja offensichtlich auch nicht wussten, dass in der Nähe der Tribüne Störsender eingesetzt waren, und sich die vermeintlichen Schüsse als plausible Erklärung für ihr Scheitern zurechtgelegt hatten. Hätte es sich aber um ein Selbst-Attentat der Regierung gehandelt, wäre dieser Irrtum gar nicht erst aufgetreten. Die Attentäter hätten dann ja gewusst, warum die Drohnen detoniert sind, und hätten sich nicht veranlasst gesehen, eine Erklärung zu konstruieren.”
– “Es gibt tatsächlich seit vielen Jahren in Kolumbien und den USA zahlreiche Leute, die gewalttätige Aktionen gegen den Chavismus geplant, durchgeführt und finanziert haben, und die aus ihren Tötungsabsichten gegen die chavistischen Kader nie einen Hehl gemacht haben. Das ist notorisch, das braucht man nicht zu erfinden. Auch die Art des Vorgehens ist üblich in diesen Kreisen: Ausführende junge Aktivist*innen, die von erfahrenen Leuten im sicheren Hinterland gesteuert und ausgerüstet werden. Selbst die fragwürdige Zielsetzung des Anschlagversuchs wundert bei diesen Leuten nicht. Sie haben in den vergangenen Jahren regelmässig alle Gelegenheiten sabotiert, den Chavismus tatsächlich zu entmachten, weil ihr Handeln offensichtlich von Hass geleitet wird und nicht von strategischem, politischem Denken. Und tatsächlich haben, abgesehen von den fragwürdigen Geständnissen der Verhafteten, mehrere dieser Leute den Anschlag bestätigt. So behauptet Salvatore Luccese in Bogotá, ein ehemaliger Gefangener und erklärter Gegener des Chavismus stolz, seinen Beitrag zum Attentat geleistet zu haben.”
– “Mal im Ernst, liebe Leute: Denkt ihr wirklich, die Chavisten wären in der Lage, so einen hochkomplexen Plan auszuführen, wie sie eine False-Flag-Operation bedeutet? Falls sie über diese intellektuellen und organisatorischen Kapazitäten verfügten, wären sie auch in der Lage, andere Probleme zu lösen, denen sie seit Jahren hilflos gegenüber stehen. In knapp 20 Jahren an der Regierung hat der Chavismus so gut wie alle fähigen Leute aus seinen Reihen verdrängt und durch inkompetente Duckmäuser ersetzt. Nicht, dass ihnen solch ein Betrug nicht zuzutrauen wäre, aber wären sie tatsächlich in der Lage, ihn auszuführen?”
Wer ständig lügt, dem glaubt man nicht…
Bei über 20 Anlässen hat Maduro seit seiner Amtsübernahme 2013 vermeintliche Staatsstreiche oder Mordanschläge gegen sich denunziert. Jedes mal hat er behauptet, die Beweise dafür zu haben, geliefert hat er sie nie. Sein Spruch “tengo las pruebas” ist schon ein geflügeltes Wort und erzeugt in der Regel nur noch gleichgültiges Achselzucken. Es ist also nicht weiter verwunderlich, dass selbst unter vielen Chavist*innen die erste Reaktion auf den Anschlag war: “So ein Quatsch, das waren die doch selbst.”
Aber es sieht so aus, als hätten die notorischen Lügner*nnen ausnahmsweise die Wahrheit gesagt. Alle Indizien sprechen dafür, dass es diesmal tatsächlich so war, wie von der Regierung dargestellt. Die zahlreichen falschen Angaben erklären sich leicht aus der gewohnten Grossmäuligkeit der radikalen Opposition, die Stümpereien bei der Durchführung und die schnellen Fahndungserfolge der Sicherheitskräfte sind Resultat einer fahrlässigen Methode, mit der diese Bewegung schon seit jeher operiert. Da werden junge fanatische Leute instrumentalisiert und verheizt, während die Drahtzieher*innen in der sicheren Nachhut sitzen und die Aktionen über Twitter anfeuern. Soweit nichts neues. Es ist zum Beispiel durchaus vorstellbar, dass der Abgeordnete Juan Requesens, der (wahrscheinlich unter Einsatz von Drogen) zugegeben hat, den Attentäter*innen auf Bitten des ehemaligen Parlamentsvorsitzenden Julio Borges beim Grenzübertritt nach Kolumbien geholfen zu haben, gar nicht wusste, worum es dabei eigentlich ging. Sonst hätte er, nachdem der Anschlag gescheitert war, sich vermutlich nicht einfach zuhause festnehmen lassen. Zeit genug, sich zu verstecken, hätte er gehabt.
Auch der angebliche Anlass für ein von der Regierung gegen sich selbst inszeniertes Attentat, nämlich die Wirtschaftsreformen vom 20. August, hat sich vor allem als nicht sehr spektakulär herausgestellt. Eine gigantische Abwertung des Bolivars und die Ankündigung einer drastischen Erhöhung des Benzinpreises ist die Essenz der “Reformen”. Der Kern des wirtschaftlichen Problems, nämlich die galoppierende Inflation und das enorme, durch die Emission unorganischen Geldes finanzierte Haushaltsdefizit auf der einen, und das dramatische Zurückgehen des Bruttosozialprodukts auf der anderen Seite, wird nicht angegangen, im Gegenteil. Die Entwertung des Bolivars um ca. 3600 %, die Erhöhung der Löhne um ca. 3500 % und das massive Verteilen von frisch hergestelltem Geld unter der Bevölkerung werden die Inflation noch stärker nach oben treiben und die vom IWF für 2018 prognostizierte Million Prozent noch als optimistisch erscheinen lassen. Dafür werden die alten Rezepte wieder ausgegraben, die sich schon in der Vergangenheit nicht haben umsetzen lassen, als die Bedingungen für ihre Anwendung noch besser waren: Vom Staat festgesetze Preise für Güter und Dienstleistungen und ein staatlich festgesetzter Wechselkurs für den Bolívar. Aber darüber mehr in einem nächsten Beitrag, der sich speziell mit den “Reformen” befasst.
Noch eine pikante Note zum Abschluss: In Mérida wurde im Zug der Fahndung nach den Hinterleuten des Drohnen-Anschlags auch Luis Martínez, ehemaliger Staatssekretär des letzten chavistischen Gouverneurs von Mérida, vom Sebin (politische Polizei) abgeholt. Luis Martínez war 2015 von einem alten linken Aktivisten, Alcedo Mora, im Zusammenhang seiner Untersuchung der im Erdölgeschäft operierenden Mafias und Briefkastenfirmen, der Korruption beschuldigt worden. Alcedo Mora verschwand spurlos, nachdem er beide, den Staatssekretär und auch den Gouverneur von Mérida, mit seinen Untersuchungsergebnissen konfrontiert hatte und im Begriff war, diese öffentlich zu machen. In einer seiner letzten SMS schrieb Mora, dass er vom Sebin verfolgt werde. War der PSUV-Kader Martínez tatsächlich am Anschlag auf Maduro beteiligt? Oder hat vielleicht der Sebin die Gunst der Stunde genutzt, um einen Mitwisser im Fall Alcedo Mora auszuschalten?