Das Diskussionspapier Dialoge für eine chavistische Überwindung der Krise, im Juni 2019 als Ergebnis einiger Gruppen des Basis-Chavismus entworfen und auf deutsch von amerika21 am 13.08.2019 veröffentlicht, ist sicher ein guter und wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Die Lösung für die sich immer weiter verschärfende Krise muss von unten kommen, von der Basis, wie das die Autor*innen fordern, und nicht von einem heilbringenden neuen Führer, wie das von der breiten Mehrheit immer wieder erwartet wird.
Leider hat die Untersuchung der Ursachen des chavistischen Debakels einige entscheidende Lücken bis hin zu Fehlanalysen. Deshalb kann auch das Ergebnis nicht richtig sein – wo die Diagnostik nicht stimmt, kann die Krankheit nicht erfolgreich bekämpft werden.
Im Ökonomischen
Die wesentlichen Ursachen des Scheiterns der chavistischen Wirtschaft wurden nicht verstanden. Genauso wie die heute regierende Clique für sämtliche Fehler stets das „Imperium“ verantwortlich macht, wird auch hier die Schuld des Scheiterns in erster Linie bei anderen gesucht, anstatt bei sich selbst anzufangen. So wird beispielsweise der Warenschmuggel ins Ausland, der die venezolanische Wirtschaft jahrelang ausblutete, einfach den „Taktiken der Opposition“ zugerechnet. Das ist völlig falsch. Die Preisbindung von Grundnahrungsmitteln und anderen Gütern war eine der Grundpfeiler der Politik von Chávez. Das Beibehalten niedrigster Preise bei gleichzeitig zunehmender Inflation hat den Schmuggel dieser Güter ins Ausland hoch attraktiv gemacht, und der daraus folgende bachaqueo war sicherlich keine exklusive Beschäftigung der Opposition, sondern eine Art Volkssport, den in erster Linie die untersten (grösstenteils chavistischen) Schichten und korrupte Regierungsbeamte oder Militärs betrieben. Da diese Billigpreispolitik den Anbau oder die Herstellung dieser Güter immer unattraktiver machte, hat sie ausserdem zur Einstellung der heimischen Produktion in diesen Bereichen geführt und den immer massiveren Import mit staatlichen Zuschüssen befördert, was wiederum die Korruption befeuert hat. Am Beispiel Kaffee: Um den Kaufpreis für die Konsument*innen niedrig zu halten, wurde den Produzent*innen ein so niedriger Grosshandelspreis aufgedrückt, der oft nicht einmal die Kosten deckte, dass die vormals grosse heimische Produktion völlig zum erliegen kam. Gleichzeitig wurde zu internationalen Preisen, die ein Vielfaches dessen betrugen, was die venezolanischen Produzent*innen verlangen durften, Kaffee beispielsweise aus Vietnam importiert, um den heimischen Konsum zu befriedigen.
Ein weiteres Beispiel des Nichtverstehens der Gründe des Scheiterns der chavistischen Wirtschaftspolitik ist das Idealisieren der verstaatlichten Produktionsanlagen. Natürlich ist es wünschenswert, wenn Fabriken enteignet und der Kontrolle der Arbeiter*innen übereignet werden. Genau das ist ja aber leider nicht passiert. Bei den meisten enteigneten Betrieben wurde eine Verwaltung von regierungstreuen Funktionär*innen eingesetzt. Die Arbeiter*innen hatten oft gar kein Interesse an Selbstverwaltung, und selbst in Fällen, wo sie das ausdrücklich verlangten, wurde nicht auf sie gehört. Die Bilanz der verstaatlichten Unternehmen ist katastrophal. Meist hoben sie, bedingt durch staatliche Finanzinjektionen, kurzzeitig das Niveau der Produktion an, und kamen dann in kurzer Zeit fast völlig zum Erliegen. Gleich potemkinschen Dörfern wurde dann manchmal im Zuge einer Fernsehübertragung geschäftiges Treiben vorgetäuscht, wofür dann extra Produkte bei der kapitalistischen Konkurrenz gekauft wurden. Es ist völlig richtig, was die Gruppe schreibt: „Die Erfahrungen mit kollektiver Selbstverwaltung, mit Kommunalisierung und der Kontrolle durch die Arbeitnehmer haben gezeigt, dass sie dort, wo sie stark ausgeprägt sind, für Probleme des Gemeinschaftslebens Lösungen bieten.“ Leider hat das in der Praxis nur wenig stattgefunden, teils wegen der Apathie der Arbeiter*innen, vor allem aber, weil die Regierung in einer Abgabe von Betrieben an die Beschäftigten in erster Linie einen Kontrollverlust gesehen hätte. So übernahmen Funktionäre und Militärs, die oft von den Eigenheiten des Betriebes keinen Schimmer hatten, die Verwaltung, betrieben damit in erster Linie Propaganda für die Partei und steckten sich nebenbei in die eigene Tasche, was ging. Zusammengefasst könnte man die venezolanische Variante von Staatsbetrieben als eine Planwirtschaft ohne Planung bezeichnen.
Es ist nicht nötig, hier alle weiteren Aspekte auszuführen, die dafür gesorgt haben, dass Venezuela trotz jahrelanger hoher Erölpreise und einer Regierung, die sich verpflichtet hatte, diese Einnahmen in den Aufbau einer autonomen Wirtschaft zu investieren, heute ohne die finanziellen Zuwendungen der im Ausland arbeitenden Millionen von Bürger*innen verhungern würde. In vielen anderen Analysen, wie zum Beispiel denen des kommunistischen Ökonomen Manuel Sutherland, ist das schon ausführlich dargelegt. Natürlich gibt es einen Wirtschaftskrieg in Venezuela. Diesen Krieg hat Chávez selbst deklariert, als er versprach, das Land vom Kapitalismus in den Sozialismus zu überführen. Die Reichen werden ihr Kapital und ihre Privilegien immer mit Zähnen und Klauen verteidigen, und für antikapitalistische Revolutionär*innen sollte das eigentlich keine Überraschung sein. Aber dieser Krieg ist nicht die Hauptursache der venezolanischen Krise. Der Zusammenbruch des Produktionsapparates ist in erster Linie hausgemacht, durch eine verfehlte Regierungspolitik. Zu sagen, die „Krise, die das Land derzeit erlebt, sei eine unmittelbare Folge der US-Strategie, den Chavismus zu entmachten“, trifft die Realität nicht.
Im Organisatorischen
Der andere wesentliche Aspekt, den die an der Diskussion beteiligten Genoss*innen nicht verstanden haben, ist der Fehler, der in der Struktur der „bolivarianischen Revolution“ angelegt ist. Ohne die Korrektur dieses Fehlers werden auch erneute Versuche, den Prozess wieder in linkes Fahrwasser zu manövrieren, scheitern.
Die Freund*innen schreiben: „Wenn sich der Befreiungscharakter der Bolivarianischen Revolution auf etwas gründet, dann doch gerade darauf, dass sie bei der Herstellung der kollektiven Würde und der sozialen Gerechtigkeit auf die zentrale Rolle des Volkes zählte.“ Man sollte aber fragen: Wann genau hat das Volk eine zentrale Rolle gespielt? Dass Chávez an die Macht kam, war nicht das Ergebnis jahrelanger Basiskämpfe, sondern eine Mischung aus geschicktem taktischen Vorgehen einer handvoll Militärs, dem aussergewöhnlichen Charisma eines einzelnen Mannes, und einer günstigen historischen Konstellation, in der die althergebrachten Eliten sich komplett diskreditiert und verbraucht hatten. Dieser von „oben“ eingeleitete Prozess wurde phasenweise tatsächlich von der begeisterten, aber eher spontanen Mobilisierung der Menschen getragen, was seinen stärksten Ausdruck im Scheitern des rechten Putsches von 2002 fand. Durch die bald darauf erfolgte Gründung der sozialistischen Einheitspartei wurde dann aber alles getan, um diese spontante Organisierung in zentral kontrollierte geordnete Bahnen zu lenken. In den Folgejahren wurden zunehmend Initiativen, die sich ausserhalb dieser Kontrolle entwickelten, entweder integriert oder notfalls auch handfest unterbunden. Das beste Beispiel dafür sind die parteiunabhängigen Gewerkschaften, deren prominenteste Sprecher seit Jahren unter konstruierten Vorwürfen inhaftiert sind. Man konnte in Venezuela noch zu Chávez‘ Zeiten oft den Eindruck gewinnen, dass die Regierung härter gegen Organisationen vorgeht, die links von ihr entstehen, als gegen rechte.
Das kritiklose Verehren eines herausragenden, fast schon suprahumanen Kommandanten wurde unter Chávez eingeführt. Schon er predigte „die Ersetzung der Treue zur Revolution durch die Treue zur politischen Führung“. Ironie der Geschichte, dass nach seinem Tod eine Figur mit dem mittelmässigen Format eines Nicolás Maduro diese Rolle des „Übermenschen“ füllen sollte.
Was die Verfasser*innen des Diskussionspapiers nicht reflektieren ist, dass das „Fehlen wirksamer, rechtmäßiger und demokratischer Mechanismen der kollektiven Führung“ Ergebnis einer Struktur ist, die eben nicht auf die Basisorganisation als Ursprung der politischen Macht setzt, sondern die „Massen“ als manipulierbare Statist*innen einer Politik sieht, die von einem „Führer“ und seinen Getreuen definiert wird. Die Kommune als Grundlage des Staates war nie als eigenständig denkende oder gar handelnde Rätestruktur gedacht, sondern als eine Verlängerung der Parteimacht bis in die letzten Gemeinden hinein.
Konsequenzen
Die Vorschläge, die Krise anzugehen, können wir allesamt unterschreiben. Ein zentraler Punkt dabei ist die Forderung nach Transparenz in den Geldvergaben. Man hätte noch weiter gehen können und die Forderung nach einem umfassenden öffentlichen Audit der Regierungshaushalte seit 1999 übernehmen. Immerhin sind nach Schätzungen in dieser Zeit über 500 Milliarden US$ aus den Schatzkammern des Staates unbelegt verschwunden. Genug Geld, um aus Venezuela eine blühende Nation zu machen, wenn es verantwortungsvoll eingesetzt worden wäre.
Was aber fehlt, sind Vorschläge, wie eine sozialistische Wirtschaft aussehen könnte, die nicht die gleichen Fehler des konsumistischen Rentismus wiederholt. Die Autor*innen liegen richtig wenn sie sagen, man „erreiche die Repolitisierung des Volkes durch eine konkrete Lösung ihrer Probleme“. Die Lösung ihrer Probleme kann aber nicht von neuen Erlösern kommen, sondern muss von den Menschen selbst gestaltet werden. Es braucht deshalb konkrete Ideen, wie eine Organisierung aussehen könnte, die tatsächlich Macht von unten nachhaltig konstituiert.