Ende Juli diesen Jahres hielt das Forum de Sao Paulo, ein Verband von Parteien und Organisationen der lateinamerikanischen Linken, seine 25. Tagung in der venezolanischen Hauptstadt Caracas ab, um Präsident Maduro und der Bolivarianischen Revolution seine Solidarität und Geschlossenheit im Kampf gegen den US-amerikanischen Imperialismus zu bekunden. Die Zusammenkunft endete in der Ratifizierung der Anerkennung der Regierung Maduro als legitime venezolanische Regierung, der Verurteilung der US Sanktionen und der Verkündung einer neuen Etappe im “Kampf um Frieden, Demokratie, Souveränität und Selbstbestimmung”, sowie für den “Erhalt der historisch erkämpften, sozialen Errungenschaften der Völker”.
Wenige Tage vor dieser Veranstaltung hatte sich die als chavistische Dissidenz verstehende Partei UPP89 (1) in einem offenen Brief an die Teilnehmer des Forums mit der Aufforderung gewandt, ihre automatische Solidarität mit der Regierung Maduro auf den Prüfstand zu stellen, einen Blick hinter die versteinerte, pseudo-linke Phraseologie zu werfen und sich auf den Boden der von der venezolanischen Bevölkerung täglich erlittenen Realität zu begeben. Nur so sei herauszufinden, wie durchaus hausgemacht die venezolanische Krise sei. Eine kritische Einschätzung der ursprünglichen Ziele und Methoden im Unterschied zum tatsächlichen Abschneiden der Regierung in puncto revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft und soziales Wohlergehen sei dringend vonnöten; ebenso wie das Neuüberdenken der eigenen Ansätze und Prinzipien, um nicht der in ein autoritäres, repressives Regime degenerierten Regierung Maduro einen Schein von Legitimität zu verleihen, die sie längst verloren habe.
In ihrer “Kritik der Bolivarianischen Revolution von Seiten der venezolanischen Linken” stellt sich die UPP89 als eine politische Ausdrucksform der venezolanischen Linken vor, welche die angeblich linke oder sozial fortschrittliche Ausrichtung der Regierung Maduro kategorisch verneint und sich in aller Schärfe von dieser abgrenzt. Maduro und die herrschende Nomenklatur hätten eine Ausbeutungsstruktur geschaffen, die der kapitalistischen oder gar feudalistischen sehr nahe käme und denselben Mustern folgen würde. (2)
In ähnlichem Sinne drücken sich ehemalige, zu Dissidenten gewordene Minister und Politiker aus der eigentlichen Chávez-Ära aus, wenn sie auf den Schaden hinweisen, den die Regierung Maduro mit ihrem Abfallen von einer sozial fortschrittlichen Politik und ihrem Umschwenken auf Strategien und Rezepte aus dem Spektrum der politischen Rechten, den Organisationen der Linken in Lateinamerika und weltweit, sowie der sozialistischen Idee als solcher zugefügt habe. Venezuela sei zum neuen Referenzpunkt und abschreckenden Beispiel in der Region geworden, was mit einer Gesellschaft passiere, wenn man den “Sozialismus” einführe. (3)
Ohne den Impakt übersehen zu wollen, den die jüngsten US-Sanktionen auf die venezolanische Wirtschaft und das tägliche Überleben der Bevölkerung haben (deren Hintergründe und Auswirkungen in diesem Beitrag jedoch nicht erörtert werden sollen), soll das Augenmerk vielmehr auf die oben erwähnte Ausbeutungsstruktur gerichtet werden, deren Erhalt sich sowohl auf die Schaffung materieller Abhängigkeiten in Gestalt von Lebensmittelpaketen, Sozialprogrammen und Finanzboni für Inhaber des “Vaterlandsausweises”, als auch auf offene Unterdrückung, Abschreckung und der konsequenten Durchführung einer Art von staatlich gelenktem “Justizterrorismus” stützt. Augenscheinliches Ziel dabei ist die Bewahrung der öffentlichen Ruhe und Ordnung inmitten der anhaltenden Krise durch präventive Aufstandsbekämpfung im Dienste der Machterhaltung der Regierung. Der psychopolitische Effekt, der damit in grossen Teilen der Bevölkerung erzeugt wird, drückt sich in einer Kombination von zurückgehaltener Wut, notgedrungener Konformität, Passivität, Demotivation und Resignation aus.
Arbeiterfreundliche Regierung?
Die Regierung Maduro brüstet sich ein ums andere Mal, eine arbeiterfreundliche Regierung zu sein. Eine Art “Mindestmaßstab”, ob eine Regierung “sozial fortschrittlich”, arbeiterfreundlich und politisch links orientiert ist, sollte das Wohlergehen der arbeitenden Bevölkerung sein mit dem Anspruch, allen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, soziale Ungleichheit auf ein Minimum zu verringern, Hunger und Armut auszulöschen und den Zugang zu elementaren Gütern und Dienstleistungen wie Nahrung, Wohnung, Gesundheit, Bildung, Wasser, Elektrizität, Transport, Information und Kommunikation zu gewährleisten. In den Worten des Artikels 91 der Verfassung der Bolivarianischen Republik Venezuela von 1999: “Jeder Arbeiter und jede Arbeiterin hat das Recht auf eine ausreichende Vergütung die ihm/ihr erlaubt, mit Würde zu leben und für sich und seine/ihre Familie die materiellen, sozialen und intelektuellen Grundbedürfnisse zu befriedigen. … Der Staat garantiert den Arbeitern und Arbeiterinnen des öffentlichen und privaten Sektors einen lebenserhaltenden Mindestlohn, der jährlich angepasst wird, wobei einer der Bezugspunkte der Preis des einfachen Warenkorbs darstellt.” Der Inhalt dieses grundlegenden Artikels ist längst zur fernen Utopie geworden. Das Dokumentations- und Analysezentrum für Arbeiter CENDA (Centro de Documentación y Análisis para los Trabajadores) hat ermittelt, dass der Preis allein des Nahrungsmittel-Warenkorbs für den Monat Juli 2019 einundvierzig Mindestlöhnen entsprach: “Der Nahrungsmittelkorb für eine (fünfköpfige) Familie kostete im Juli 1.649.360,75 Bolivares (Bs). … Der sich auf 40.000 Bs belaufende Mindestlohn, gültig seit dem 16. April 2019, hatte im Juli lediglich eine Kaufkraft von 2,4% des Wertes des familiären Nahrungsmittelkorbs. … Eine Familie benötigt 41 Mindestlöhne, nur um ihre elementaren Bedürfnisse in Ernährungsfragen zu decken.” (4)
Am 20. August ist der Mindestlohn in Venezuela laut offiziellem Wechselkurs auf einen historischen Tiefpunkt gesunken und beträgt nur noch 2,76 US Dollar im Monat (der Nahrungsmittelkorb liegt dagegen umgerechnet bei knappen 114 Dollar monatlich). Damit sind venezolanische Lohnabhängige weit unter die von den Vereinten Nationen definierte Schwelle der extremen Armut gesunken, die bei 1,25 Dollar Tageseinkommen liegt. Das heisst, der Wert der Arbeitskraft in Venezuela liegt nicht nur unermesslich weit unterhalb der Grenze ihrer physischen Reproduktion, sondern Arbeiter in Venezuela fristen faktisch ein Dasein ohne Einkommen und hängen in ihrem Überleben von Zuwendungen der Regierung bzw. von finanziellen Zuschüssen ab, die ihnen ausgewanderte Familienangehörige schicken. Die Zahl der seit 2015 ausgewanderten Venezolaner liegt laut der UNHCR inzwischen bei vier Millionen und der Gesamtbetrag der aus dem Ausland gesandten, finanziellen Unterstützung für zurückgebliebene Familien könnte mit geschätzten zwei bis drei Milliarden Dollar im laufenden Jahr sogar den durch nicht traditionelle Exporte erwirtschafteten Betrag übersteigen. (5)
Noch vor einem Jahr betrug der Mindestlohn im Rahmen der Einführung des “Programms für die Erholung, das Wachstum und den Wohlstand der Wirtschaft” dreißig Dollar oder ½ Petro – die unbedeutende, an den Weltmarktpreis für Erdöl gekoppelte, venezolanische “Kryptowährung”, die der Dreh- und Angelpunkt der Inflationsbekämpfung sein sollte. Der Mindestlohn wurde auf einen halben Petro festgesetzt, wobei ein (1) Petro dem Marktwert eines Barrels Öl entspricht. Danach gemessen sollte das Mindesteinkommen heute bei etwa 29 Dollar oder 430000 Bolívares liegen (auch wenn damit so gut wie nichts gewonnen wäre). Doch die Regierung verfährt mit dem Petro nach einem Doppelmaßstab und hat ihn in einen “Stablecoin” (am Erdölpreis verankerter Wert) und eine Verrechnungseinheit (mit festgelegtem Kurs) unterteilt. Der Wert letzterer liegt derzeit bei 80000 Bs (= 5,5 Dollar) und gilt als Maßstab zur Berechnung des Mindesteinkommens (= ½ Petro) und als Einheit der Steuererhebung.
Der Gewerkschafter und Bundesvorsitzende der Partei Sozialismus und Freiheit (PSL – Partido Socialismo y Libertad), Orlando Chirino, bezeichnet den vor exakt einem Jahr in Kraft getretenen “Wirtschaftsrettungsplan” von Präsident Maduro als ein neoliberales Massnahmenpaket, was die gesamte Last der durch eine jahrelange, verfehlte Wirtschafts- und Finanzpolitik entstandenen Krise auf die Schultern der arbeitenden Bevölkerung abwälzt. Im Zuge der Währungsreform sind ohne Rücksprache bzw. Verhandlung mit den Arbeitnehmern ein neuer Wert des nationalen Mindestlohns (=1/2 Petro) sowie neue Lohntabellen für Verwaltungsangestellte im öffentlichen Sektor eingeführt worden. Mit dem Inkrafttreten am 11. Oktober 2018 des vom Volksministerium für Arbeit verfassten und von Maduro abgesegneten Memorandums Nr. 2792 kam dann der Rundschlag gegen die Rechte der Arbeiter im öffentlichen und privaten Sektor: Mit dem Argument, die Mindestlohnerhöhung vom 20. August 2018 sei – da eingebettet in ein komplexes Wirtschafts-rettungsprogramm – von „integraler Art“, wurden die in sämtlichen Arbeits- und Tarifverträgen festgelegten Bestimmungen als jederzeit revisionsfähig erklärt und damit zu unverbindlichen Richtlinien degradiert, um “die gerechte Verteilung des Reichtums unter den Arbeitnehmern” zu garantieren und die “grossen, wirtschaftlichen Unterschiede, die die Existenz von privilegierten Gruppen unter den Arbeitern und Arbeiterinnen gefördert haben” zu korrigieren.
In anderen Worten: Der “sozialistischen” Regierung Maduro geht es nicht darum, die grossen wirtschaftlichen Unterschiede zwischen Unternehmern und Arbeitern, oder zwischen privilegierten, hohen Staatsbürokraten und einfachen Angestellten, oder zwischen einer korrupten, milliardenschweren Wirtschafts-und Finanzelite und der 2,76 Dollar im Monat verdiendenden, notleidenden Bevölkerung zu korrigieren, sondern es geht ihr darum, die Löhne nach unten zu nivellieren. Alle vor dem Wirtschaftsrettungsprogramm erkämpften Rechte und Ansprüche der Arbeiter können fortan nach unten revidiert oder auch ganz eliminiert werden, falls sie das Bestehen des Arbeitgebers gefährden(!). Die Beschneidung der Arbeiterrechte lässt die Regierung unbekümmert, “da im neuen integralen Mindestlohn das Prinzip der Einkommensprogressivität total garantiert” sei. (6)
In der Einschätzung Orlando Chirino´s: „Mit diesem brutalen Paket, dessen schlimmster Ausdruck das Memorandum 2792 ist, beabsichtigt die Regierung Maduro den allgemeinen Begriff des Lohns und der kollektiven Arbeitsverhandlungen endgültig auszuradieren. Es wird versucht, den Lohn einseitig festzulegen, ohne dass die Verhandlungen zwischen den Seiten -Arbeitgeber und Arbeitnehmer- ins Spiel kommen, womit den Tatsachen nach der Existenzgrund der Gewerkschaften annulliert wird. Ebenso wie den in Geld ausbezahlten Lohn durch das zu ersetzen, was die Regierung „Soziallohn“ nennt und was nichts anderes ist, als die Arbeiter in Naturalien zu entlohnen.“ (7) – Ein zweifelsohne feudalistischer Aspekt der von der UPP89 eingangs erwähnten, herrschenden Ausbeutungsstruktur.
Soziale Proteste
Die sozialen Proteste in Venezuela nehmen von Jahr zu Jahr zu. Angaben des Venezolanischen Observatoriums für soziale Konfliktivität (Observatorio Venezolano de Conflictividad Social OVCS) zufolge gab es allein in den ersten drei Monaten diesen Jahres 6211 Proteste im ganzen Land, wovon 51% die Einforderung der wirtschaftlichen und sozialen Rechte zum Gegenstand hatten. Das OVCS registrierte 2820 Strassenaktionen (im Durchschnitt 31 Proteste täglich) zur Einforderung des verfassungsmäßig verankerten Rechts auf politische Mitwirkung. In Bürgerversammlungen, Demonstrationen, Lärmprotesten durch Töpfeschlagen und Strassensperren machten sich die Beteiligten ihrem Unmut mit der Zielsetzung Luft, einen Wechsel der Regierung und der herrschenden Wirtschaftspolitik zu erreichen. 1668 Proteste (im Durchschnitt 19 täglich) verdankten sich der prekären Situation und dem teilweisen Kollaps der öffentlichen Diensleistungen im allgemeinen. 1032 Proteste ereigneten sich speziell anläßlich des Zerfalls des nationalen Elektrizitätssystems, welcher Handel und Gewerbe, den Betrieb in den verschiedenen Bildungsanstalten des Landes, das Funktionieren des Gesundheitswesens und das Alltagsleben als solches schwer beeinträchtigt. Was die Einforderung der Rechte der Arbeiter und Lohnabhängigen betrifft, so wurden 1125 Proteste registriert (im Durchschnitt 13 pro Tag), welche den Schutz der Löhne angesichts der anhaltenden Hyperinflation sowie den Rücktritt der Regierung Maduro forderten. (8)
Reaktion der Regierung auf die sozialen Proteste
Die Regierung reagiert auf die Proteste mit offener Repression und einer Strategie von Abschreckung durch Angsterzeugung. Die ausführenden Organe der Repression vor Ort sind die Guardia Nacional Bolivariana (GNB), die Policía Nacional Bolivariana (PNB), die Fuerzas de Acciones Especiales (FAES) und der Inlandsgeheimdienst SEBIN. Die „juristische Kriegsführung“ – die Instrumentalisierung der Justiz zum Zwecke der Ausschaltung politischer Gegner – wird von der Regierung in staatsterroristischer Manier betrieben, indem Arbeiter, Gewerkschafter, Politiker, Kritiker und Aktivisten – sowohl aus der politischen Opposition sowie erst recht aus dem Lager der chavistischen Dissidenz – systematisch diffamiert, bedrängt, inhaftiert und zum Teil gefoltert und umgebracht werden. Die Anklage lautet meist pauschal: Terrorismus, Hochverrat, Verschwörung, Aufstachelung der Öffentlichkeit zum Hass. Viele Betroffene fliehen schon in der Diffamierungsphase ins Ausland, um sich in Sicherheit zu bringen. Emblematisch für die „Neutralisierung“ von unliebsamen Gewerkschafter*innen ist der Fall von Rúben González, Generalsekretär der Arbeitergewerkschaft CVG-Ferrominera del Orinoco (venezolanische Schwerindustrie), der am 30. November 2018 im Zusammenhang mit Protesten und Kundgebungen für die Einhaltung der Tarifverträge und Lohntabellen festgenommen und von einem Militärgericht zu fast 6 Jahren Haft verurteilt wurde. González war schon 2009, noch unter der Regierung Chávez, wegen Anführung eines Streiks in Ferrominera festgenommen und erst 2011, nach zweijähriger Inhaftierung, zu siebeneinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden. Nur dank massiver Mobilisierungen und Proteststreiks in der gesamten Schwerindustriebranche musste der Urteilsspruch annulliert werden.
Ist das eine Regierung der Arbeiter*innen?
Dass die Regierung Venezuelas von einem Arbeiter angeführt wird, ist ein Punkt, der Respekt abverlangt. Es spricht eigentlich für die Ernsthaftigkeit, mit der hergebrachten Ordnung zu brechen und sozialistisches Denken umzusetzen, dass es in der bolivarianischen Revolution möglich war, dass ein einfacher Gewerkschafter es bis an die Spitze des Staates schafft. Aber ein presidente obrero, also ein Arbeiter als Präsident, macht leider noch keine Regierung FÜR die Arbeiter*innen aus. Ganz im Gegenteil: Von der gegenwärtigen Situation profitieren nur Leute, die selbst nicht arbeiten, von Spekulanten und Militärs bis hin zu unbeschäftigten Slumberwohner*innen, die von Nahrungsmittelkisten und Almosen leben. Diejenigen, die von der „Arbeiterregierung“ definitiv nur Nachteile haben, sind diejenigen, die zu ihrem Überleben ihre Arbeitskraft verkaufen müssen.
In den meisten Fällen reicht der Lohn gerade aus, um den Transport zum Arbeitsplatz und zurück zu bezahlen, und genügt nicht einmal für das Essen, also die Wiederherstellung der Arbeitskraft. Damit liegt die Lohnarbeit in Venezuela noch unterhalb der Sklavenarbeit, die ja immerhin die Ernährung des Sklaven gewährleistet.
Orthodoxe Linke in aller Welt machen dafür gerne den „Wirtschaftskrieg“ und die US-Sanktionen verantwortlich. Dieser Argumentation zufolge handelt es sich beim venezolanischen Modell des Sozialismus um ein Projekt, das ohne die permanenten Angriffe seiner Gegner durchaus viabel wäre und den Arbeiter*innen einen vorbildlichen Lebensstandard garantieren könnte. Viel ist an dieser These aber nicht dran. Die kriminellen Wirtschaftssanktionen von Trump, die auf ein Aushungern der Bevölkerung zielen, sind erst seit kurzem in Kraft, während die Krise aber schon mehr als sechs Jahre dauert. Sie können also kaum die Ursache des Debakels sein. Die famose „guerra económica“ aber, also der angebliche Krieg der Kapitalisten gegen ein linkes Projekt, ist in erster Linie ein Krieg unfähiger Administratoren gegen die eigene Wirtschaft. Auch wenn es richtig ist, dass die Unternehmer im Land und die westlichen Mächte der bolivarianischen Revolution Steine in den Weg legen, wo sie nur können, so sind alle wesentlichen Probleme des Landes, also Inflation, Korruption, Rückgang der Produktion und völlige Abhängigkeit von Importen, Resultat einer desaströsen Politik, die sich einen gewaltig aufgeblähten Staatsapparat leistet und alle Finanzierungsmöglickeiten ausser dem Export von Rohstoffen systematisch vernachlässigt und sabotiert hat. Und den Verfall der Erdölpreise kann man schliesslich schlecht den bösen Absichten der Imperialisten gegenüber Venezuela zuschreiben.
Es bleibt die Frage, inwieweit es sich bei der venezolanischen Revolution überhaupt um ein linkes Projekt handelt. Wenn die traditionellen Kernanliegen linker Politik, also soziale Gleichheit, Ernährungssicherheit, Gesundheitsversorgung, Erziehung und Umweltschutz so systematisch verschlechtert wurden, wie es in den zwei Jahrzehnten des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ geschehen ist, womit kann ein angeblich sozialistischer Staat seine repressive Politik gegenüber seinen Schutzbefohlenen dann noch rechtfertigen? Der Erhalt der eigenen Macht als Selbstzweck ist jedenfalls keine linke Idee. Es ist in den Industrienationen schon seit jeher beliebt, dass Linke, die bei der Umwälzung der Verhältnisse im eigenen Land keine nennenswerte Erfolge erzielen können, hoffnungsfroh auf fortschrittliche Projekte im globalen Süden schauen. Das mag verständlich sein, hat aber auch eine unappetitliche Seite, wenn im Hinblick auf angebliche Verbesserungen im projektierten, gelobten Land die Unterdrückung der fundamentalsten Rechte dort legitimiert wird. Am Beispiel Venezuela sticht das besonders ins Auge. Blind wird hier von den Linken anderer Breitengrade die Solidarität mit einem Regime hochgehalten, bei dem das einzige, das noch an Sozialismus erinnert, der Name ist. Es wäre an der Zeit für diese Leute, sich auf die ursprünglichen Werte der Solidarität zu besinnen und zu denen zu stehen, die hier tatsächlich für die Arbeiterrechte kämpfen: die Arbeiter*innen selbst.
Endnoten
(1) Unidad Política Popular 89 ist eine 2016 eingetragene.Partei linker Ausrichtung. Die Zahl 89 verweist auf das Schlüsseldatum des 27. Februar 1989, Tag des Volksaufstands oder „Caracazo“, in dessen Verlauf hunderte von Menschen zu Tode kamen und der den Beginn der „Bolivarianischen Revolution“ markiert. Parteivorsitz ist der Ingenieur und ehemalige Kandidat in den Präsidentschaftswahlen 2018, Reinaldo Quijada.
(2) Titel des Briefs an die Abgeordneten des Forums von Sao Paulo / Caracas 25.-28. Juli 2019
(3) Rafael Ramírez, Juan Barreto, Hector Navarro, um nur einige wenige zu nennen.
(4) https://twitter.com/Cenda_Info/status/1162695571930570753?ref_src=twsrc%5Etfw
(5) Zahlen laut Einschätzung von Ökonom José Guerra, Abgeordneter des venezolanischen Parlaments und Vorsitzender der Finanzkommission, der sich wegen politischer Verfolgung seit kurzem in Kolumbien im Exil befindet und die Arbeitsverhältnisse bzw. Gratisarbeit in Venezuela als eine neue Form der Sklaverei bezeichnet. In: Noticiero Digital vom 16. Mai 2019; (www.noticierodigital.com/2019/05/preven-remesas-cierren-2019-al-menos-2-000-millones/).
(6) Zitatfragmente aus: Memorandum 2792
(7) Orlando Chirino: „Nach einem Jahr des Wirtschaftserholungs-, Wachstums- und Wohlstandsprogramms: Nur Misere für die Arbeiter“; Erklärung vom 20.08.2019, veröffentlicht auf: www.laclaseinfo.com
(8) Vgl.: www.observatoriodeconflictos.org.ve/tendencias-de-la-conflictividad/6-211-protestas-en-venezuela-durante-el-primer-trimestre-de-2019/amp