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Kein Strom, kein Essen, kein Gas und kein Benzin: Décroissance in Venezuela

Die Hunger Games
Medialer Krieg ist auch nicht mehr das, was er einmal war. Wochenlang hatte die internationale Presse den Showdown zwischen dem „Tyrannen Maduro“ und dem „Befreier Guaidó“ hochgepeitscht. Es ging buchstäblich um die Errettung eines Volkes vorm Verhungern. Juan Guaidó, ein junger Abgeordneter der rechten Partei „Voluntad Popular“, der sich in einer fragwürdigen Interpretation der Verfassung und ganz offensichtlich auf Betreiben der USA zum Übergangspräsidenten ausgerufen hatte, wollte in einer grossen medialen Aktion Tonnen von Hilfsgütern ins Land bringen, gegen den Willen der Regierung, der darauf keine andere Antwort einfiel, als zu behaupten, die Versorgungslage im Land sei vorbildlich, und also die Transporte gewaltsam zu verhindern. Der ersehnte Erfolg des Spektakels wollte sich aber nicht so recht einstellen. Zwar war die Aktion für die Opposition insofern erfolgreich, als der Chavismus weltweit wieder mal als das enlarvt werden konnte, was er ist: ein Haufen entseelter Bürokraten, denen der Erhalt ihrer Macht wichtiger ist als die Hilfe für die Bevölkerung, zu deren Schutz sie doch eigentlich angetreten waren. Auch nutzten rund 60 venezolanische Sicherheitskräfte die Gelegenheit, um sich von ihren Truppen abzusetzen. Aber das eigentliche Ziel der Aktion, nämlich ein massenhaftes Überschreiten der Grenze durch Zivilisten und in der Folge ein allgemeines Überlaufen der Soldaten, das den Anfang des Endes des Chavismus einläuten sollte, fand nicht statt. Weil die ganz grossen medial verwertbaren Bilder sich partout nicht einstellen wollten, gingen ein paar übereifrige Aktivist*innen der Opposition sogar so weit, einen der Lastwagen mit Hilfsgütern anzuzünden, um die venezolanischen Truppen dieser Untat bezichtigen zu können. Nach dem Motto „irgend was bleibt immer hängen“ kolportierten Guaidó und seine internationalen Handlanger*innen sofort den Fake, ohne Rücksicht darauf, dass auf Fotos klar zu sehen war, dass der fragliche Lastwagen weit von den venezolanischen Soldaten entfernt auf kolumbianischem Boden abgefackelt wurde.
Nach dem Spektakel ist die Luft erst mal raus. Maduro ist weiterhin im Amt, und Guaidó tourt durchs Land, um seine Basis zu motivieren. Währendessen betritt ein neuer Aktor die Bühne: der „elektrische Krieg“.

„Apagón“
In den späten Nachmittagsstunden des 7. März fiel in ganz Venezuela der Strom aus. Niemand ahnte, dass dem Land der längste und verheerendste Blackout seiner Geschichte bevorstehen würde. Für 5 ewig scheinende Tage und Nächte hatten der grösste Teil der venezolanischen Bevölkerung keinen Strom, und viele auch kein Wasser wegen des Ausfalls der elektrischen Pumpsysteme. Es herrschte totale Funkstille; die Telekommunikation sowie die Übertragung in Radio und Fernsehen waren komplett ausgefallen und die wenigen, prekären Informationen über das ebenso im Dunklen liegende Zeitgeschehen und dessen möglichen Ursachen wurden praktisch von Mund zu Mund weitergegeben. Der private und öffentliche Verkehr kam fast vollständig zum Erliegen, da nur wenige Tankstellen des Landes über funktionale Notstromaggregate verfügen, und wo dies der Fall war, ging in Kürze das Benzin aus, weil die Reserven in den Depots nicht für die hunderten von Fahrzeugen ausreichten, die davor kilometerlange Schlangen bildeten. In vielen Krankenhäusern starben Patienten wegen fehlender Stromversorgung. In den Kühlschränken und Gefriertruhen verdarben die Lebensmittel; manche Geschäfte verschenkten bereits halb verdorbene Fleisch- und Milchprodukte an ihre Kunden. Die Verluste bei Produktion, Lagerung und Handel von nicht haltbaren Lebensmitteln beliefen sich auf riesige Summen. Ab dem dritten Tag des Stromausfalls musste die Regierung Maduro an zwei aufeinanderfolgenden Tagen arbeitsfreie Tage ausrufen, da das öffentliche Leben komplett zum Stillstand gekommen war. Der Ökonom Asdrubal Oliveros bezifferte den entstandenen Schaden nach vier Tagen Stromausfall auf 875 Millionen Dollar oder ein Prozent des Bruttoinlandprodukts.

Abgesehen von propagandistischen Medienauftritten, in denen als Ursache für den katastrophalen Stromausfall ein Cyberangriff bzw. „elektrischer Krieg“ der USA gegen Venezuela genannt wurde, glänzten Staatschef Maduro und sein Kabinett durch Abwesenheit, einschliesslich des Ministers für elektrische Energie, Luis Motta Dominguez, ein General der venezolanischen Nationalgarde ohne Kompetenz oder Erfahrung auf diesem Gebiet. Es gab keinerlei Kontingenzpläne der Regierung, um die Bevölkerung in der Notlage mit entsprechender Logistik zu unterstützen, und sollte es sie gegeben haben, so wurden sie nicht ausgeführt. Die Bevölkerung tappte, was die exakten Ursachen, den entstandenen Schaden an der Infrastruktur, die geschätzte Dauer und das Ausmass des Blackouts betraf, buchstäblich im Dunkeln, was Gerüchten, Angst und Unsicherheit Tür und Tor öffnete. Der bargeldlose Zahlungsverkehr, ohne den in Venezuela wegen des chronischen Bargeldmangels kaum etwas zu kaufen ist, fiel aus, da nur wenige Geschäfte über ihr privates Notstromaggregat verfügen, und das für Bankabrechnungen und – überweisungen unerlässliche Internet nicht funktionierte. Ohne Strom, Wasser, Kochgas, Transport und Kommunikation und fast ohne Einkaufsmöglichkeit – skrupellose Einzelhändler und Wucherer nutzten die Notlage, um exorbitante Preise für ihre Waren zu verlangen – schuf sich vielerorts die Wut und Ohnmacht der Menschen über Proteste und Plünderungen ein Ventil. Im heissen Bundesstaat Zulia wurde für Eiswürfelbeutel, die zur notdürftigen Kühlung von verderblichen Lebensmitteln benutzt wurden, satte zehn Dollar verlangt.

Arbeiter, Ingenieure und Techniker der nationalen Elektrizitätsgesellschaft Corpoelec haben in der Vergangenheit immer wieder vor einem bevorstehenden Zusammenbruch des elektrischen Systems in Venezela gewarnt und sind dafür diffamiert, entlassen und einige sogar inhaftiert worden, wie der am 14. Februar 2018 vom Geheimdienst SEBIN im Bundesstaat Carabobo festgenommene, im Dienst von Corpoelec arbeitende Ingenieur und Gewerkschaftsführer Elio Palacios, welcher wiederholt den kritischen Zustand der elektrischen Infrastuktur dort denunziert, vor ihrem bevorstehenden Kollaps gewarnt und als Gründe fehlende Wartung und Korruption genannt hatte.

Wegen seiner strategischen Bedeutung für die nationale Sicherheit war der Elektrizitäts-Sektor noch unter Chávez längst auf einen Notfall oder „Angriff von aussen“ vorbereitet worden, indem neue, thermoelektrische Stromerzeugungskomponenten in das Nationale Elektrizitätssystem (SEN) integriert worden waren, womit die Abhängigkeit des Grossteils des Landes von der Stromerzeugung des Guri Staudamms etwas vermindert werden sollte. Diese thermoelektrischen Stromgeneratoren sind jedoch inzwischen mehrheitlich unbrauchbar, was grösstenteils auf ihre minderwertige technische Qualität zurückzuführen ist, alldieweil sie im Zuge der Korruption ohne öffentliche Ausschreibung von ausländischen Firmen zweifelhafter Kompetenz völlig überteuert importiert worden waren. Hinzu kamen später mangelnde Wartung wegen fehlender Ersatzteile, die heimliche, schleichende Demontage der Generatoren und der Verkauf ihrer Einzelkomponenten, und sogar fehlender Treibstoff für ihren Betrieb. Bezeichnenderweise hat die Regierung Maduro keine offizielle Erklärung dafür geliefert, wieso die thermoelektrischen Anlagen, die in Engpässen oder Notfällen einzuspringen haben, nicht funktionieren. So auch auf dem Flughafen Maiquetía von Caracas, der trotz eines gewaltigen Notfallaggregats tagelang ohne Strom war.

Laut einer Untersuchung von Ingenieuren der Universidad Central de Venezuela und Technikern der Nationalen Elektrizitätsgesellschaft lag die Ursache des Stromausfalls bei einem Brand der Vegetation in der unmittelbaren Nähe des Guri Kraftwerks, der sich schon am Tag vor dem Stromausfall entzündet hatte und welcher drei Hochspannungsleitungen überhitzte. Es kam zur Überlastung bis hin zur vorübergehenden Abschaltung der Turbinen. Mehrmalige Versuche, das System wieder hochzufahren, misslangen und führten schliesslich zu einer Explosion in einer nahegelegenen Umspannstation mit weiteren, schweren Schäden.

Es ist bemerkenswert, dass ein fünf Tage und vier Nächte währender Stromausfall praktisch im ganzen Land, einschliesslich der Millionenhauptstadt, welche in den vergangenen Jahren von den schlimmsten Stromausfällen durch eine Umverteilung von Kapazitäten zu Lasten der Provinz weitgehend verschont geblieben war, nicht zur Destabilisierung der Regierung oder gar ihrem Sturz geführt hat. Ausser vereinzelten Plünderungen von Märkten blieb es im grossen und ganzen ruhig.

Am 25 März brach das das Stromnetz schon wieder zusammen, bis zur Stunde ist die Stromversorgung im Land nicht wieder völlig hergestellt. Aber dieses mal beugte die Regierung vor: praktisch jede Strassenkreuzung in den betroffenen Städten ist von Militärs besetzt. Auch wenn es auch diesmal an jeglicher Unterstützung der betroffenen Bevölkerung, etwa durch Ausgabe von Wasser und unverderblichen Lebensmitteln fehlt, scheint die Regierung wenigstens einem potenziellen Aufstand vorbeugen zu wollen.