Der ausbleibende Aufstand

Venezuela zwischen Resignation und Widerstand

Der Zusammenbruch der venezolanischen Wirtschaft beschleunigt sich. Seit Oktober herrscht im Land offiziell Hyperinflation, mit einer monatlichen Erhöhung von über 50%. Die Inflation im Dezember war die brutalste in der Geschichte des Landes: Um 129% sind die Preise in nur einem Monat gestiegen. Die notwendigen Nahrungsmittel für eine fünfköpfige Familie haben im Dezember 16,5 Millonen Bolivar gekostet (laut CENDAS), das entspricht 93 mal dem gesetzlichen Mindestlohn. Die staatlichen Lebensmittelpakete (CLAP), die laut Regierungspropaganda eigentlich zweiwöchentlich für relativ wenig Geld an alle Haushalte verteilt werden sollten, werden rar. In Caracas, von der Regierung schon immer bevorzugt wegen seiner sozialen Brisanz, kommen die ersehnten Kisten immer seltener, in der Provinz teilweise nur noch zweimal im Jahr.
Neben der schieren Unmöglichkeit, sich zu ernähren, leidet die arbeitende Bevölkerung noch unter einer Reihe anderer Probleme, die den Alltag zur Tortur machen. Die von Privatleuten betriebenen öffentlichen Verkehrsmittel werden (wegen unerschwinglicher oder fehlender Ersatzteile) immer weniger und immer teurer, die billigen staatlichen Transporte sind vollkommen überlastet. Und zu den ständig steigenden Preisen kommt eine permanente Knappheit von Bargeld, weil die reale Versorgung des Landes mit Nahrungsmitteln immer mehr über den massiven Schmuggel aus dem benachbarten Ausland stattfindet, der wegen der Unmöglichkeit, an Devisen zu kommen, in der venezolanischen Währung Bolívar (Bs.) stattfindet. Dementsprechend stapelt sich an den Grenzen zu Kolumbien und Brasilien das Geld und wird dadurch natürlich noch schneller entwertet.
Die nationale Produktion befindet sich im freien Fall. Zum einen führt die gesetzliche Festlegung der Verkaufspreise in vielen Fällen dazu, dass eine rentable Herstellung von Gütern legal gar nicht möglich ist. Die Preise werden vom Staat stets sehr knapp über den Herstellungs- und Vertriebskosten festgesetzt, manchmal auch darunter, weil die zuständigen Beamten oft wenig Ahnung von den realen Prozessen haben. Dann vergehen immer viele Monate, bis der Preis neu festgesetzt wird, was bei der galoppierenden Inflation dazu führt, dass schon kurz nach der Festsetzung der legale Verkaufspreis die Kosten nicht mehr deckt. Einige kleinere Produzenten und Händler scheren sich nicht darum und verkaufen die Produkte, wie sie wollen, aber für grössere Firmen ist das nicht machbar, weil sie zu leicht kontrolliert werden können. Sie stellen dann die Produktion ein.
Am schlimmsten betroffen von dieser Preisfalle sind die staatlichen Unternehmen, weil sie ihre eigenen Regeln ja schlecht brechen können. So hat z.B die verstaatlichte Molkereifabrik „Lácteos Los Andes“ seit Jahren keine Milchprodukte mehr im Angebot, weil kein Bauer auf die Idee käme, ihr seine Milch unter dem Herstellungspreis zu verkaufen. Die Zuckerrohrbauern vom Bundesstaat Portuguesa fahren ihre Ernte Hunderte von Kilometern über die Anden, um sie in den kleinen Familienmühlen von Ejido verarbeiten zu lassen, weil die staatliche Zuckerzentrale in Portuguesa ihnen nicht so viel zahlen darf wie die Familienbetriebe im Süden Méridas. Der gesetzlich festgelegte Zuckerpreis liegt bei 18.758 Bs., die Produzenten argumentieren, dass sie einen Preis von mindestens 60.000 Bs. bräuchten, um funktionieren zu können. In den Supermärkten ist Zucker seit Jahren nicht mehr erhältlich, auf der Strasse kostet der aus Brasilien und Kolumbien von Schmugglern importierte Zucker derzeit um die 200.000 Bs. In den letzten zehn Jahren ist die Zuckerproduktion im Land um 59 % gefallen.
Zum allgemeinen Rückgang der Produktion gesellt sich die massive Auswanderung qualifizierter Arbeitskräfte. Zwei Millonen Venezolaner*innen sollen in den letzten beiden Jahren das Land verlassen haben auf der Suche nach Arbeit, vor allem in Südamerika. Die meisten von ihnen kommen aus der Mittelschicht und haben eine universitäre Ausbildung, denn die Ärmeren können sich die Reise kaum leisten. Diese qualifizierten Fachkräfte stehen dem nationalen Arbeitsmarkt zumindest mittelfristig nicht mehr zur Verfügung.
Der gewichtigste Faktor für den Rückgang der Produktion aber ist die Knappheit von Devisen. Da die Regierung fast alle Dollars, die das staatliche Erdölunternehmen Pdvsa erwirtschaftet, zur Schuldentilgung einsetzt, und der Erwerb von Dollars ausserhalb des staatlich festgelegten Wechselkurses verboten ist, gibt es kaum noch Devisen für die nötigen Rohstoffe und Ersatzteile. Ein Grossteil der nationalen industriellen Kapazitäten liegt deswegen brach. Infolgedessen werden auch weniger Teile und Stoffe, die bisher im Land hergestellt wurden, geliefert, was wiederum die Notwendigkeit von Importen erhöht. Ein Teufelskreis, der sich innerhalb des bestehenden Regelwerks kaum durchbrechen lässt.
Die vollkommen entfesselte Delinquenz und die zunehmenden Hungerrevolten machen es auch nicht leichter, Güter zu produzieren und zu transportieren. So fahren in weiten Teilen des Landes die Lebensmitteltransporte nur noch im Konvoi, weil hungrige Anwohner*innen immer wieder die Überlandstrassen sperren und Lastwagen plündern.
Fazit: Viele Unternehmen haben dicht gemacht, die Industrie läuft auf Minimum, in den Strassen sieht man immer mehr geschlossene Läden. In den vergangenen zwei Jahren ist die Produktion in Venezuela um 25% zurückgegangen.

Angesichts dieses Panoramas erhebt sich die logische Frage: Wann reicht es den Leuten? Wann kommt der Punkt, wo sie einfach nicht mehr können und es zur sozialen Explosion kommt, mit oder ohne politischer Strategie? Wir haben Anfang Februar willkürlich Leute auf der Strasse danach befragt. Ihre Antworten geben Einblick in ihre subjektiven Nöte und deren möglicher Lösungen in einem widersprüchlichen Spannungsfeld zwischen Resignation, Hoffnung und Widerstand.

Pilar, 29 Jahre, ist alleinstehend ohne Kinder, wohnt bei ihrer Mutter in Lagunillas und arbeitet als Verkäuferin in einer 20 km entfernten Bäckerei für den Mindestlohn (790.000 Bs. monatlich). Als ihr persönlich wichtigstes Problem empfindet sie die täglichen Fahrtkosten zu ihrem Arbeitsplatz und zurück, die mit privaten Buslinien 420.000 Bs. monatlich betragen und damit über die Hälfte ihres monatlichen Einkommens beanspruchen. Mit der staatlichen Buslinie reduzieren sich die Kosten zwar erheblich, aber wegen der langen Wartezeiten muss sie einen sehr viel höheren Zeitaufwand in Kauf nehmen und wendet bis zu fünf Stunden am Tag für An- und Rückfahrt zum und vom Arbeitsplatz auf. An zweiter Stelle, aber genauso dringlich, empfindet sie die schlechte Versorgungslage mit Lebensmitteln und die Zeit, die sie investieren muss, um sie zu kaufen. Pilar hat auf zweierlei Ebenen persönlich auf die Krisensituation reagiert. Zum einen ist sie aktives Mitglied in der Partei Primero Justicia und nimmt an deren Veranstaltungen und Protestaktionen teil, wie den zwischen Februar und August 2017 durchgeführten Demonstationen und Strassensperren Zum anderen hat sie vergangenes Jahr an einer spontanen Strassenaktion teilgenommen, in deren Rahmen aufgebrachte Bürger den Verkauf von gehorteter Milch erzwungen und sich gegen staatliche Sicherheitskräfte zur Wehr gesetzt hatten. Es bedürfe ihrer Meinung nach wohl einer Hungersnot, in Kombination mit einer totalen Aussichtslosigkeit auf Besserung der Situation, bis sich eine grosse Anzahl von Menschen zum persönlichen Handeln in Form von Strassenprotestaktionen gezwungen sähen. Sie macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass die Belieferung der Bevölkerung mit den staatlichen Lebensmittelpaketen nur so sporadisch stattfindet, dass die Lebensmittelnotlage dadurch nicht gemildert und die Krisensituation nicht entschärft wird. Darüberhinaus meint sie, wenn die Hauptstadt Caracas sich nicht in Gestalt von nachhaltigen Protesten aktiviere, würde sich im Rest des Landes auch nichts, oder zumindest nichts Entscheidendes, bewegen. Dieser Tatsache sei sich die Regierung bewusst und daher achte sie darauf, dass in den Armenvierteln der Hauptstadt die Lebensmittelversorgungslage nicht in den kritischen Bereich abrutscht. Gleichzeitig fördere die Regierung zu ihrer Verteidigung eine bewaffnete Miliz in den Armenvierteln. Pilar hat „selbstverständlich Hoffnung“, dass sich die Situation bald ändert, ist jedoch fest davon überzeugt, dass sich dies nicht auf demokratischem Wege, also über Wahlen erreichen lasse. Sie führt die von regierungstreuen Funktionären beherrschten und im Regierungsinteresse instrumentalisierten Institutionen Oberster Gerichtshof und Oberste Wahlbehörde als Beispiele auf. Ihrer Überzeugung nach kann nur der öffentliche Druck in Form von Protesten und Strassenkämpfen, bzw. in allerletzter Instanz ein gewaltsamer Umsturz der Regierung eine Veränderung im Lande herbeiführen. Von den Präsidentschaftswahlen erwartet sie nichts; sie erachtet das Militär als entscheidenden Faktor und „Hoffnungsträger“ für Veränderung. Die oberen Ränge seien zwar gekauft und fest ins gesamte System der Korruption und des Klientelismus eingebettet, aber die grosse Mehrheit der unteren Ränge gehörten zum verarmten Volk und leidet genauso unter der Krisensituation wie die Zivilbevölkerung.

Auf dem Flughafen von Caracas wartet Carlos mit einer Gruppe von vier Freunden, alle Mitte dreissig, auf den Weiterflug in Richtung Peru, wo sie Arbeit suchen wollen. Sie kommen aus Margarita und haben dort in der Tourismusbranche gearbeitet, aber das Geld, das sie dort verdient haben, reicht ihnen nicht mehr zum Leben. Sie sagen, sie wollen zurück nach Venezuela kommen, sobald das Land wieder „frei“ ist. Carlos ist nicht damit einverstanden, dass ein wichtiger Sektor der Opposition zum Wahlboykott aufruft. Er meint zwar, dass die Regierung keine sauberen Wahlen abhält, aber dass eine massive Wahlbeteiligung mit eindeutiger Mehrheit eine Basis für neue Kämpfe böte, um die Stimmen zu verteidigen, selbst wenn die Ergebnisse manipuliert würden. Das könnte in seinen Augen auch zu einer stärkeren Einmischung aus dem Ausland beitragen. Eine militiärische Intervention von aussen lehnt er allerdings kategorisch ab.

Luis, 39, ist Taxifahrer aus Carúpano. Im November 2016 war er nach Caracas gefahren, auf die grosse Demonstration als Reaktion auf die versuchte Auflösung des Parlaments durch den obersten Gerichtshof. Er sagt, er war damals bereit, den Präsidentschaftspalast zu stürmen, um die Regierung zu stürzen, auch wenn er dabei sein Leben gelassen hätte. Er fühlt sich von den Vetretern der Opposition verraten, die seinerzeit auf Bitte des Papstes den geplanten Marsch auf den Regierungssitz abgesagt haben und Verhandlungen mit der Regierung begannen. Er ist überzeugt, dass über Wahlen keine Änderung mehr möglich ist. Eine friedliche Lösung sei nicht mehr möglich, nur gewaltsam könne die Regierung beseitigt werden. Notfalls auch mit Hilfe des Auslands.

In der Schlange im Supermarkt reden wir mit Sandra, 46 Jahre, aus Ejido, alleinstehend mit zwei Kindern. Sie verdient als Aushilfskellnerin in einem Gasthof einen halben Mindestlohn. Ihr drängendstes Problem ist die schlechte Versorgungslage mit Nahrungsmitteln und die ständige, ausser Kontrolle geratene Verteuerung. Sie kann sich aufgrund ihres minimalen Einkommens ausschliesslich subventionierte Lebensmittel leisten, was sie dazu zwingt, einen grossen Teil ihrer Zeit mit der Suche danach, und in den langen Warteschlangen zu verbringen. Sie hat sich einen Tag in der Woche reserviert, an dem sie nur auf Lebensmittelsuche geht. Sandra hat bis jetzt nicht persönlich auf die Situation reagiert,. Sie ist weder politisch organisiert oder engagiert, noch hat sie an spontanen Protesten teilgenommen. „Was nutzt das denn?“, fragt sie. „Es ändert doch eh‘ nichts an der Situation“. Man müsse halt aushalten, die Lage durchstehen. Hoffnung, dass sich die Situation ändert, hat sie schon irgendwie, wobei sie auf eine Art „natürlichen Verlauf“ der Dinge setzt: „Alles was seinen Anfang genommen hat, findet auch irgendwann ein Ende“. Klar geht sie in den Präsidentschaftswahlen wählen, sagt sie, hat aber wenig Hoffnung, dass bei einem Gewinn der Opposition sich wirklich etwas für die Leute verändern würde.

In der gleichen Schlange steht Ramona Altuve, 45 Jahre, alleinstehend, ein Sohn, auch aus Ejido. Sie ist Angestellte in einem Laboratorium zur Herstellung naturheilkundlicher Arzneimittel und verdient den Mindestlohn. Sie stellt die Lebensmittel- und Medikamentenknappheit und -Verteuerung auf ein und diesselbe Dringlichkeitsstufe, da beides für sie mit der Erhaltung von Leib, Leben und Gesundheit verbunden sei. Ramona hat ihrem Unmut und ihrer Entrüstung aktiv Ausdruck verliehen, indem sie an Unterschriftenaktionen der Opposition, an einigen Demonstrationen und an sämtlichen Wahlen teilgenommen hat in dem Bestreben, der Regierung und ihrer „verheerenden Politik“ entgegenzusteuern. Das ist für sie das Minimum, was sie als Bürgerin beitragen kann und muss, um einen Regierungs- und Kurswechsel der Politik zumindest zu befördern versuchen. Ihrer Meinung nach liegt es am weitverbreiteten Konformismus und auch an der zunehmenden Angst vor Repressalien seitens der staatlichen Sicherheitsorgane, dass ein Grossteil der Venezolaner sich nicht aktiv an Protestveranstaltungen oder Spontan-Aktionen beteiligt. Ein weiterer Faktor sei die „Spendierhosentaktik“ der Regierung, mit der immer wieder die ganz unmittelbaren, kurzfristigen Bedürfnisse ihrer Anhängerschaft bedient, und damit periodisch der Druck aus dem Dampfkessel abgelassen würde. Die Grenze des Durch- und Aushaltevermögens der venezolanischen Bevölkerung sieht Ramona im Hunger. Die rasante Verteuerung der Lebensmittel liesse die Leute von Woche zu Woche ärmer und magerer werden, sagt sie; viele ernährten sich vorwiegend von Kochbananen. Der Mindestlohn reiche gerade noch für ein Kilo Reis und 30 Eier. Damit sieht sie die soziale Explosion vor der Türe stehen; die sich häufenden Plünderungen von Lebensmitteltransportlastern und Läden im ganzen Land seien Vorboten. Sie hofft, dass die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen Änderung bringen. Sollte Präsident Maduro dennoch als Sieger hervorgehen, so setze sie ihre Hoffnung darauf, dass sich die Bevölkerung im zivilen Widerstand organisiere.

Auch Jesus Márquez, 25 Jahre, kommt aus Ejido, als Sportlehrer verdient er den Mindestlohn. Er empfindet den Zugang zu Lebensmitteln und Medikamenten als die gleichwertig dringlichsten Probleme. Jeden Vormittag und an den Wochenenden verliert er seine gesamte Freizeit damit, in stundenlangen Warteschlangen halbwegs erschwingliche Lebensmittel zu erstehen, wenn er sie denn irgendwo hat auftreiben können. Jesús gehört keiner politischen Partei an, ist aber in seiner Wut und Entrüstung über die Inkompetenz und Korruptheit der Regierung auf eigene Faust aktiv geworden und hat sich 2017 an den sogenannten Guarimbas, den Strassenblockaden, beteiligt. Er bemängelt den Konformismus der meisten seiner Landsleute, die Bittstellermentalität, die von oben über populistische, kurzfristige Almosentaktik bedient und am Leben gehalten werde, und das Fehlen einer Arbeitsethik, welche Eigeninitiative und das Erreichen von Zielen vermittels eigener Arbeit und Anstrengung befördere. All dies, und die zunehmende Angst vor der staatlichen Repression, seien Gründe dafür, wieso die meisten Leute nicht selber aktiv würden und etwas gegen die Situation unternähmen. Er findet, ein Generalstreik wäre das geeignete Mittel, die Regierung zum Abdanken zu zwingen. Das setze aber eine andere Mentalität voraus; vor allen Dingen ein Abschiednehmen vom Paternalismus. Als Beispiel dafür, dass es vereinzelt doch aktiv-militanten Widerstand geben kann, der nicht unbedingt politisch organisiert sein muss, nennt er den Fall Oscar Pérez – ein ehemaliger Kriminalpolizeibeamte der im Juni letzten Jahres einen Hubschrauberangriff auf den Obersten Gerichtshof und das Innenministerium geflogen hat – und seine kleine Gruppe von Mitstreitern, die vor wenigen Wochen in einer Kommandoaktion von Staatssicherheitskräften erschossen worden sind. Diese aussergesetzliche Hinrichtung, sagt Jesús, rangiere jedoch nicht unter dem Oberbegriff „Terrorismus“, weil vom Staat praktiziert; aber jeder Bürger, der sich in irgendeiner Form in seiner Not zur Wehr setze, werde von der Regierung als „Terrorist“ gebrandmarkt. Das sei der herrschende Doppelstandard. Ebenso wie jede kritische Meinungsäusserung gegen die Regierung unter das jüngst in Kraft getretene “Anti-Hass Gesetz” fallen und mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden könne, nicht jedoch die im Staatsfernsehen übertragenen Schimpftiraden und Drohungen von Regierungsanhängern gegen ihre politischen Gegner der Opposition. Für Jesús ist 2018 ein entscheidendes Jahr. Er wird wählen gehen, sagt er, und setzt seine ganze Hoffnung auf den – noch zu bestimmenden – Einheitskandidaten der Opposition. Sollte allerdings Maduro die Wahlen wieder gewinnen – was er wegen der Manipulationsmöglichkeiten und Hausvorteile seitens der Regierung nicht ausschliesst – hätte das für ihn persönliche Konsequenzen. Nicht in dem Sinne, dass er sich Gedanken über einen nachhaltigen, zivilen Widerstand mache, wie er sagt, sondern dass er Venezuela verlassen und anderswo versuchen müsse, ein Leben mit Zukunftsperspektiven aufzubauen.

Keiner der Befragten erwähnt die verbrauchte, diskreditierte Opposition und die fehlende politische Alternative als Faktor, der zur Resignation vieler Bürger beiträgt Die mannigfachen, voneinander isolierten Aufstände in Gestalt von Plünderungen und kollektiven Überfällen auf Lebensmitteltransporte über das ganze Land verteilt, von spontanem, unorganisiertem Charakter, die sich in der Aktion des Moments verpuffen, bleiben ohne Effekt. Was fehlt und was einer der Gründe dafür ist, dass es noch nicht zum „Generalaufstand“ gekommen ist, ist die bisher fehlende politische Dimension einer echten Alternative, die die vielen fragmentarischen Aufstände kanalisieren könnte. Das allgemeine Aufstandsmomentum, was 2016 noch durchaus vorhanden war, ist von der „Mainstream“-Oppositionsführung für einen fragwürdigen Dialog mit der Regierung geopfert worden.
Der Chavismus auf der anderen Seite, der noch vor wenigen Jahren satte Mehrheiten der Bevölkerung mobilisiert hat, hat seine einstige Attraktivität und Glaubwürdigkeit vollständig eingebüsst. Noch kann er mit fragwürdigen Methoden und dank der tatkräftigen Hilfe einer vollkommen unfähigen Opposition Wahlen gewinnen, aber auf der Strasse ist es sehr schwierig geworden, noch eine Person zu treffen, die die Regierung verteidigt. Es ist eine der Kuriositäten Venezuelas, dass ein wesentlicher, wahrscheinlich der grössere, Teil der Gesellschaft ohne politische Vertretung dasteht.
Ein weiteres Charakteristikum der venezolanischen Bevölkerung ist ihr resigniertes Durchhaltevermögen angesichts widriger Umstände. Wo andere sich längst wehren würden, gibt man sich hier „in Gottes Hand“. Aber diese Passivität kann kippen, wie es 1989 beim „Caracazo“ geschehen ist, als viele Tausende wütender Bürger*innen die Supermärkte in der Hauptstadt leerten, bis sie von der Armee zusammengeschossen wurden. Die massiven Plünderungen seit Anfang dieses Jahres, durchgeführt von ganzen Comunidades, die zum Beispiel die Autobahn sperren und Lastwagen mit Lebensmitteln enteignen, könnten Anzeichen sein, dass es mit der Geduld allmählich vorbei ist.