Nach seiner politischen Unabhängigkeit ist Venezuela in einem halbkolonialen Status gefangen und den Interessen von US-Regierungen und Ölkonzernen unterworfen geblieben. Die Ölgesetze wurden ab den 1920ern von ausländischen Ölfirmen zusammen mit der einheimischen Kompradorenbourgeoisie formuliert. Jahrzehntelang konnten sie dort Rekordprofite einfahren. Die strategische Bedeutung des Landes zeigte sich in seiner Funktion als „Tankstelle“ der US-Armee während des zweiten Weltkrieges.
Nach einer langen Phase von Diktaturen lösten sich ab 1958 die beiden größten Parteien einvernehmlich 40 Jahre lang beim mehr oder weniger demokratischen Regieren ab.
Bei einer Anti-IWF-Revolte massakrierte die Armee 1989 viele 100 Menschen. Das blieb ohne größere Resonanz bei den Verteidiger*innen der Menschenrechte in Europa. Bald danach begann der Aufbau der neuen politischen Formation („Bewegung der Fünften Republik“), der in die Präsidentschaftskandidatur von Chávez mündete.
Aus dieser Konstellation erklären sich 1999 die großen Hoffnungen der verarmten Massen in den neuen Präsidenten Chávez. Sie erklärt auch die „Vorbehalte“ der US-Regierung und eines Teils der traditionellen Eliten gegen die neuen Töne aus dem Präsidentenpalast.
„Was hat den chavismo bloß so ruiniert?“ fragt der Vorspann des Artikels von Basuca in der ila 413. Was Basuca korrekt beschreibt, war im chavistischen Projekt strukturell angelegt und lange vor März 2013, als endlich Chávez‘ Tod verkündet wurde, auf kleinerer Stufenleiter Realität: Unliebsame Kader der Revolution wurden kaltgestellt, die Korruption umklammerte Herz und Hirn des neuen und alten Staats- und Parteiapparats, hunderte Mrd Dollar wurden mit seiner Hilfe ins Ausland verschoben, ein normaler Lohn reichte nicht zum Leben. Die angeblich umfassende staatliche Kontrolle des alles entscheidenden Ölsektors „zugunsten des Volkes“ („el petróleo es nuestro“ 1) war ein gut inszeniertes Propagandaprojekt, das nicht über den Aufbau von empresas mixtas unter verstärkter Beteiligung des Staatskonzerns PDVSA hinausging. Und: Der comandante supremo wurde zum weltlichen Opium des Volkes hochstilisiert.
Chávez hat nie ein anderes Projekt verfolgt als Maduro: Antiimperialistische Rhetorik, von oben kontrollierte Bürger*innenbeteiligung, paternalistische Sozialprogramme. Das nationale Kapital wurde nicht angetastet, der größte (Lebensmittel)-Konzern, Polar, macht bis heute Gewinne. Das Importkapital wurde mit der Zuteilung billiger Dollars eingebunden: Ab 2005 verkaufte der Staat sog. Präferenzdollar für lächerliche 10 Bolívares. Neben einem Teil der alten Bourgeoisie bereichern sich bis heute Zehntausende Kader*innen der sozialistischen Partei, des Staatsapparats und – in zunehmendem Ausmaß – des Militärs. Deshalb halten sie so verbissen am „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ fest.
Entgegen allen programmatischen Überlegungen hat der chavismo in der Praxis immer und ausschließlich aufs Öl gesetzt. Um die Massen mit einem Teil der Öleinnahmen zu befrieden und so die nächsten Wahlen zu gewinnen. Er profitierte von der Hochpreisphase des Erdöls. Kurz nach dem Preiseinbruch 2008/09 wurde ein typisches Sparpaket geschnürt: Erhöhung des Mindestlohns weit unterhalb der Inflationsrate, Erhöhung der Mehrwertsteuer (die unterschiedslos alle, also vor allem die Armen trifft) von 9 auf 12 %, Verringerung der Staatsausgaben. Der staatliche Ölkonzern PDVSA berichtete von massiven Senkungen bei den Sozialprogrammen, die aus seinen Devisentöpfen bestritten wurden.
Arbeiter*innenkämpfe wurden repressiv niedergemacht, wenn sie nicht im Sinn des Regimes waren wie z.B. beim staatseigenen Stahlkonzern SIDOR in Guayana oder bei Mitsubishi in Barcelona. Die Leninsche Vorstellung von der korrupten Arbeiteraristokratie in den imperialistischen Ländern wurde nicht nur gegen die venezolanische Arbeiterelite in der Ölindustrie gerichtet, wo 200.000 Arbeiter den Reichtum des Landes mit 30 Mio Einwohner*innen produzieren. Auch Streiks von Metro- und Krankenhausarbeiter*innen wurden denunziert, weil sie angeblich auf Kosten „des Volkes“ die Erhöhung ihrer (Mindest)-Löhne einforderten. Die fábricas recuperadas bekamen staatliche Aufseher, häufig waren das frühere Militäroffiziere. „Arbeiterkontrolle“ bedeutete „Kontrolle der Arbeiter*innen“.
Es gab nach 1999 zwei Situationen, wo sich die Volksmacht in geballter Weise eigenständig und ohne Kontrolle von oben zu Wort gemeldet hat: Gegen den Putschversuch 2002 und gegen den „paro petrolero“ 2002/03.
2002 wurden die Massen von Chávez persönlich wieder nach Hause geschickt
und mit der programmatisch-rhetorischen Radikalisierung Richtung „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ beruhigt. 2003 wurde von oben eine neue Führung bei der PDVSA eingesetzt, die Vorschläge der Techniker-Arbeiter*innen, die die Produktion während des „Streiks von oben“ aufrechterhalten hatten, wurden ignoriert.
Die Vorstellung, mit Chávez sei alles besser gewesen, wird gerne gepflegt. Zum Beispiel in solchen graffiti, die dem omnipräsenten – Che Guevara stilsicher nachempfundenen – Chávez-Antlitz Sprüche wie „Maduro, Du hast mein Herz verraten!“ in den Mund legen. Die Kritik am „Verräter“ Maduro mithilfe des Chávez-Mythos ist eine weitere Variante der von Basuca kritisierten Bittstellermentalität: „Wir wollen einen besseren Chef, der sich um alles kümmert“.
Chávez‘ Politik war dem Diktat der Staatsverschuldung und des sinkenden Ölpreises unterworfen. Das arco-minero-Projekt, das seit knapp zwei Jahren in einer riesigen Sonderwirtschaftszone den Abbau von Gold, Diamanten, Koltan u.a. in die Hände kanadischer Konzerne gelegt hat, wurde bereits 2009 diskutiert. Es war klar, dass der hohe Ölpreis nicht ewig halten würde. Das immer wacklige Modell „Rohstoffverkauf auf dem Weltmarkt“ wurde lediglich um einige Produkte erweitert.
Basuca verweist (hoffnungsvoll?) auf Plünderungen von Lastwagen mit Lebensmitteln durch „hungrige Anwohner*innen“ bzw „ganze comunidades“. Das ist höchstens die halbe Wahrheit. Einen Teil der Plünderungen organisiert die private und halbstaatliche Mafia, die ihre Beute später auf der Straße verkauft. Der größte Teil von „abgezweigten“ Lebensmitteltransporten geht auf Korruption in den Verteilungsstrukturen zurück. Diese reicht vom Hafen in La Guaira, wo die Lieferungen aus Mexico etc anlanden bis in die Verteilungskomitees in den barrios. Die Maduro-Regierung denunziert alle Plünderungen als volksfeindlich, auch wenn offensichtlich ein Teil der eigenen Basis beteiligt ist.
Basuca erinnert an den Caracazo, als 1989 Zehntausende gegen ein von der damaligen Regierung bereitwillig umgesetztes IWF-Sparprogramm demonstrierten und sich massenweise an Plünderungen beteiligten. Diese spontan ausgebrochene Revolte hatte eine lange Vorgeschichte in selbstorganisierten barrio-Strukturen sowie den Organisierungsversuchen von kleinen Parteien und (Stadt)-Guerillagruppen. Der chavismo hat genau solche Strukturen erfolgreich in sein staatliches Projekt integriert, Basis-Aktivist*innen regelrecht mit Geld zugeschissen, die Massen jedes Jahr in eine demokratische Wahl gehetzt, bei denen es angeblich immer um „alles oder nichts“ ging. Auf diese Weise wurden auch radikalere Initiativen, für die der chavismo Spielräume hätte öffnen können, so zumindest die Hoffnung vieler seiner Sympathisant*innen, von vornherein nachhaltig kooptiert.
In der aktuellen Phase absoluter Lebensmittel- und Medikamentenknappheit beziehen sich viele Menschen ausschließlich auf ihre unmittelbaren Familienstrukturen. Das ist plausibel, schlägt aber häufig bereits der Nachbarin die Tür vor der Nase zu. Eine kollektive Überlebensstrategie, die über den Tag hinausreicht, ist aktuell kaum noch auffindbar.
Es gibt nur wenige Initiativen, die jenseits des Streits zwischen Regierung und US-höriger Opposition politisch eingreifen und/oder Schritte zur praktischen Selbsthilfe bei der Organisierung des Alltags unternehmen. Das ist nicht zu verwechseln mit der Abhängigkeit von irgendwelchen Programmen aus Caracas, deren Mittel zu häufig im Sumpf der allgegenwärtigen Korruption versickern. Eine Vernetzung solcher Initiativen ist nicht bisher erkennbar, es sei denn, wir begreifen die Aufstellung von einigen eigenen Kandidaten der kommunistischen Partei gegen die der PSUV bei den kürzlichen Bürgermeister*innenwahlen als solche.
Die Mittelschicht wandert aus. Das Regime profitiert kurzfristig von den Geldsendungen dieser Migrant*innen sowie von der Abwesenheit 100.000er potentieller Wähler*innen der Opposition. Das (Lumpen)-Proletariat bleibt im Land. Es wird – in größer werdenden Abständen mit staatlichen Lebensmittelpaketen abgespeist. Diese werden gezielt vor allem in den Armenvierteln eingesetzt.
Auch so erklärt sich, dass im Dezember 2017 bei den Wahlen der Bürgermeister*innen ca ein Drittel der Wahlberechtigten, sieben Mio Menschen, die von oben ernannten „Kandidat*innen des Volkes“ der sozialistischen Partei gewählt haben. Die Propagandamaschine von Partei-, Staats- und Militärapparat brummte in den Wochen vor der Wahl auf Hochtouren, im Fernsehen liefen Reportagen über die Verteilung von Weihnachtspaketen durch „die Kandidaten des Volkes“.
Die von USA/EU gesponsorte politische Opposition ist für die Massen keine Alternative. Wer an linke Wahlalternativen glauben möchte, bekam im Bezirk Libertador der Hauptstadt im Dezember 2017 eine Antwort: Eduardo Saman, von Chávez 2008 rausgeworfener sehr populärer Minister, kandidierte u.a. für die kommunistische Partei gegen PSUV. Er bekam 50.000 Stimmen, die PSUV-Kandidatin 400.000.
Die Volksmacht von unten wird sich in Zukunft hoffentlich anders zu artikulieren wissen. Möglicherweise durch massives Ignorieren der Präsidentenwahl am 20. Mai.
Das alles verweist darauf, dass soziale Revolution nur weltweit möglich sein wird. Wir sollten auch in der BRD unseren Anteil leisten.
Nina Hagen
1 http://www.cinerebelde.org/nuestro-petroleo-otros-cuentos-p-66.html