The Hunger Games, reloaded

Eins muss man der Opposition ja lassen: Die Idee, die Mobilisierungen im Land nicht an der Absetzung Maduros auszurichten, sondern an der Forderung, Hilfsgüter ins Land zu lassen, ist – ausnahmsweise – intelligent. Egal, wen man fragt, alle hoffen darauf, bald die ersehnten Pakete aus den USA in den Händen zu halten. Selbst diejenigen, die materielle Unterstützung selbst gar nicht so dringend nötig hätten. An den Demos seit dem 23. haben so viele Menschen teilgenommen, wie seit vielen Jahren nicht. Und egal, wie sich die Regierung verhält, sie wird in der Frage auf jeden Fall verlieren: Blockiert sie die Hilfslieferungen an der Grenze, steht sie als grausam da. Lässt sie sie aber ins Land, muss sie zugeben, dass sie ein Problem hat, das sie selbst nicht lösen kann. So wird aus dem Hunger ein Spiel um Macht. Ob es den Anfüher*innen der Mobilisierungen dabei wirklich so sehr um die Not der Armen geht, ist dabei noch die Frage. Immerhin sind die meisten von ihnen in der Politik, lange bevor Chávez regierte. Willams Dávila zum Beispiel, der den riesigen Marsch gegen den Hunger am 2. Februar in Mérida anführte, hat zu seinen Zeiten als sozialdemokratischer Gouverneur bewiesen, dass ihn die Versorgungslage der sozial Schwachen herzlich wenig interessiert.
Auch der Chavismus spielt mit dem Hunger. Als Reaktion auf die Selbsternennung Guaidós als Interimspräsident schickte die Partei die „lokalen Kommitees für Versorgung und Produkion“ (CLAP) los, um Unterschriften für Maduro zu sammeln. Wenn eine Person nicht unterschreiben wollte, dann wurde ihr gesagt, dass sie künftig keine Essenspakete mehr erhalten würde. Diese fast geschenkten CLAP – Kisten sind für die meisten Familien aber ein unverzichtbarer Beitrag zum Überleben geworden. Ob sich der Chavismus mit diesem Vorgehen viele Freunde macht, ist zu bezweifeln. Die meisten unterschreiben wohl, aber zurück bleibt ein unterdrückter Zorn, dass mit so elementaren Bedürfnissen wie dem Essen Machtpolitik betrieben wird.

Juan Guaidó, der sich in einer etwas mutwilligen Interpretation der Verfassung zum Übergangspräsidenten ausgerufen hat, ist kein gemässigter Demokrat. Seine Partei Voluntad Popular steht am äussersten rechten Rand der venezolanischen Parteienlandschaft, ihr Programm ist die ungehinderte Entfaltung des Marktes und die politische und kulturelle Anlehnung an die US-Republikaner. Parteichef Leopoldo López, der einer Oligarchenfamilie entstammt, die sich in vorchavistischen Zeiten an der staatlichen Erdölfirma PDVSA illegal bereichert hatte, sass lange im Knast, weil er 2014 zum gewaltsamen Sturz des Chavismus aufgerufen hatte. Aber vertritt er wirklich eine Mehrheit der Venezolaner*innen? Auch wenn er momentan auf breite Zustimmung zählen kann, weil die Menschen von der Krise schlicht müde sind und einfach nur noch einen Wechsel wollen, egal wie, entspricht seine politische Linie wohl kaum den allgemeinen Vorstellungen von der Zukunft des Landes. Alle Umfragen sagen: Die Menschen wollen ein Ende des Chavismus, weil er seine Versprechen nicht mehr einlöst, aber sie wollen einen Sozialstaat, keinen wilden Kapitalismus. Wenn aber Maduro tatsächlich zugunsten Guaidós abdanken würde, wäre die plausibelste Folge, dass López als Kandidat der rechten Opposition zur Wahl aufgestellt wird, da es seine Partei war, die den Wechsel herbeigeführt hat. Und es ist sehr wahrscheinlich, dass dieser, zusammen mit der freundlichen Hilfe seiner internationalen Verbündeten, dafür sorgen würde, dass es für die sicher schnell anberaumten Neuwahlen keine wählbare Vertretung der unabhängigen Linken gäbe. Denn dass diese bis heute über keine legale Parteistruktur verfügt, dafür hat der Chavismus gesorgt, mit Repression und juristischen Winkelzügen. Im Resultat wäre es wohl eine Regierung im Stile von Trump und Bolsonaro, die die „Rückkehr in die Demokratie“ durchführen würde.
Es ist ja völlig offensichtlich, dass der Chavismus alle Legitimation verloren hat und unfähig ist, das Land aus der schweren Krise herauszuführen, in die er es manövriert hat. Selbst ein Sack Kartoffeln würde besser regieren als diese abgewirtschaftete mafiöse Clique. Man kann sogar der Meinung sein, dass in der jetzigen Situation eine neoliberale Regierung für die Menschen das kleinere Übel wäre, weil sie die Märkte öffnen und Hilfslieferungen zulassen würde. Aber es ist von da ein grosser Schritt, sich für einen Machtwechsel zugunsten einer Wirtschaft der Reichen für die Reichen zu begeistern, wie es derzeit in der ganzen Welt Leute bis weit ins fortschrittliche Lager tun, die es gar nicht mehr erwarten können, dass Guaidó endlich anerkannt wird. Bei der jetzigen Verteilung der Karten gehört die arbeitende Bevölkerung nicht zu den Gewinner*innen, egal welche der beiden Seiten sich durchsetzt.

Die Bildung eines Parallelstaates, wie sie von der Opposition und ihren internationalen Verbündeten vorangetrieben wird, mit einem obersten Gerichtshof im Exil, einer Generalstaatsanwaltschaft im Exil und jetzt auch einem Schattenpräsident, zielt entweder auf das Einknicken des Chavismus, oder darauf, schlussendlich in einer bewaffneten Auseinandersetzung zu münden. Ersteres könnte geschehen, wenn die Militärs durch generöse Angebote wie Amnestie und Legalisierung ihrer Beute dazu gebracht würden, die Seiten zu wechseln. Ausserdem müssten Russland und China mitspielen, denn diese haben ein Interesse an der Wahrung des Status Quo, so lange die massiven Schulden, die Venezuela bei ihnen hat und die grösstenteils auf juristisch fragwürdiger Grundlage zustande kamen, nicht derart abgesichert werden, dass sie vor einem internationalen Schiedsgericht anerkannt würden. Wir dürfen wohl davon ausgehen, dass diesbezüglich frenetische Verhandlungen hinter den Kulissen laufen. Wir können nur raten, was dabei heraus kommt, informieren wird man uns darüber sicher nicht. Falls es dabei aber nicht zu einem Ergebnis kommt, bleibt nur noch Krieg. Siehe Syrien. Es ist unverantwortlich, so mit dem Schicksal von Millionen Menschen zu pokern.
Sinnvoller scheint uns da der Vorschlag der Plataforma para el Rescate de la Constitución zu sein, ein Zusammenschluss von unabhängigen Linken und ehemaligen Chavist*innen, die ein Plebiszit vorschlagen, in dem die Bevölkerung entscheidet, ob sie allgemeine Neuwahlen will, einschliesslich der Neubesetzung des Obersten Gerichtshofes und der Wahlkommission. Dafür Druck zu machen wäre sicher demokratischer, als die Bestätigung eines selbsternannten Interimspräsidenten voranzutreiben. Stattdessen hat man in den letzten Wochen den Eindruck, dass sogar vernünftige Leute von der permanenten Bombardierung durch die Medien so aufgeputscht sind, dass die Anerkennung von Guaidó für sie zur Existenzfrage wird.

Über eines sollten die Befürworter*innen einer radikalen Lösung sich klar sein: Ein gewaltsamer Konflikt im Land würde in erster Linie nicht die Regierung und Parteikader treffen, sondern das chavistische Fussvolk, an dem sich der rechte Mob austoben würde. Der Vorrat an Waffen und angestautem Hass im Land ist gewaltig, und die Partei hat bisher keinerlei Vorkehrungen für den Schutz ihrer Basis getroffen. Einen Vorgeschmack davon konnte man am 23 Januar in Mérida erleben, als Jugendliche, die dem Aufruf zum Protest gefolgt waren, im Schutz der Barrikaden einen geistig verwirrten Mann erst anschossen und dann, noch lebendig, verbrannten. Der Grund: Sie hatten ihn für einen Chavisten gehalten.