Nachruf auf eine verpasste Chance.
Am 20 Mai finden in Venezuela Präsidentschaftswahlen statt, ohne Beteiligung der rechten Opposition und diskreditiert von der “internationalen Gemeinschaft”. Als einziger ernstzunehmender Gegner von Maduro tritt Henry Falcón an, früher selbst Chavist, bis er nach einem Streit mit Chavez wegen dessen Enteignung einiger Lagerhallen der Polar(1) die Partei verliess. Sein Programm ist diffus sozialdemokratisch, als wichtigster Punkt sticht die vorgeschlagene Einführung des Dollar als Landeswährung hervor. Die historische Vertretung der Opposition, die MUD, boykottiert bis auf wenige Ausnahmen die Wahlen, weil sie von einem zu erwartenden Wahlbetrug ausgeht und weil sie nicht durch ihre Beteiligung ein System legitimieren will, das sie als illegal einstuft. Ohne die Stimmen der rechten Opposition hat ein gemässigter Kandidat wie Falcón gegen Maduro wenig Chancen auf eine Mehrheit der Stimmen. Das Potential der MUD liegt bei etwa 30% der Wähler*innen, die den Aufruf zum Wahlboykott auch tatsächlich befolgen würden. Davon befindet sich ein wichtiger Teil zur Zeit im Ausland und ist dort sowieso nicht wahlbefähigt, weil die venezolanischen Konsulate die Einschreibung dieser Wähler*innen sabotieren. Das Potential des Chavismus liegt bei vier bis fünf Millonen sicheren Wähler*innen, dank der knapp vier Millonen staatlichen Angestellten, ökonomisch anderweitig Erpressbaren und seinen genuinen Anhänger*innen. Ausserdem gibt es eine riesige Gruppe der Bevölkerung, wohl mehr als ein Drittel der insgesamt 19 Millonen Wahlberechtigten, die sowohl vom Chavismus enttäuscht sind als auch von der historischen Opposition. Das ist das Potential, das Henry Falcón wengstens teilweise mobilisieren könnte. Für einen Wahlsieg wäre das aber wohl noch nicht ausreichend. Ein Teil der Stimmen wird ja auch auf die anderen drei Kandidaten entfallen, darunter ein Vetreter der gewerkschaftlichen Linken und der chavistischen Dissidenz. Nur wenn er auf die Stimmen der MUD zählen könnte, wäre ihm eine satte Mehrheit sicher.
Ist ein Wahlbetrug so sicher zu erwarten?
Im letzten Jahr fanden drei Wahlen statt: Die Wahl der Verfassungsgebenden Versammlung (ANC), Gouverneurswahlen und die der Bürgermeister*innen. Bei der ersten enthielt sich die Opposition vollständig, der Chavismus spielte Durchmarsch und sackte dank völlig willkürlichen und unkontrollierten Wahlmechanismen über acht Millonen Stimmen ein, das angeblich beste Ergebnis seiner Geschichte. Ein sehr offensichtlicher Wahlbetrug, den selbst die Firma Smartmatic denunzierte, die die Software für das elektronische Wahlsystem liefert. Smartmatic legte dar, dass die im System angelegten Mechanismen zur Kontrolle, die für gewöhnlich von allen beteiligten Parteien wahrgenommen werden, übergangen worden seien, und so die gleiche Person beliebig oft wählen konnte.
Die beiden folgenden Wahlen, bei denen Teile der Opposition zum Boykott aufriefen, aber andere Teile selbst Kandidat*innen aufstellten und die vorgesehenen Kontrollfunktionen wahrnahmen, wurden zwar mehrheitlich vom Chavismus gewonnen, teils wegen der massiven Manipulation und Erpressung der Wähler*innen von Seiten der Regierung, aber sicher auch dank der massiven Boykottaufrufe der Opposition. Wahlbetrug aber, also die willkürliche Änderung bereits erzielter Ergebnisse, konnte nur in wenigen Fällen nachgewiesen werden. Da, wo die Oppositionskandidaten mit einer deutlichen Mehrheit gewonnen hatten, wurden die Ergebnisse von der Regierung auch akzeptiert, wenn auch erst nach einem demütigendem Ritual, das der Legimitation der (nach allen rechtlichen Standards illegalen) ANC dienen sollte.
Für die kommenden Präsidentschaftswahlen sind ähnliche Rahmenbedingungen zu erwarten: Erpressung, Mobbing, Psychoterror, Schüren von Angst. Letztendlich bleibt die Wahl an sich aber geheim. Die Mechanismen des Chavismus zur Beeinflussung der Wahl sind in erster Linie manipulativer Natur. Das aktuelle Wahlsystem ist weder frei noch fair, doch ein offenener Wahlbetrug ist kaum zu erwarten, wenn die Opposition sich beteiligt und die Ergebnisse überwacht und verteidigt.
Was wäre, wenn besipielsweise Henry Falcón als Wahlsieger anerkannt würde?
Auch bei einer gewonnenen Wahl würde der neue Präsident nicht einfach regieren können. Die Wahlen wurden (verfassungswidrig) mit einer Übergangszeit von acht Monaten bis zur eigentlichen Amtsübergabe anberaumt. Die ANC würde die Zeit wohl nutzen, um den Präsidenten bis dahin einiger seiner wichtigen Kompetenzen zu berauben. Die Armee und andere vom Chavismus besetzten Institutionen würden den neuen Präsidenten in seiner Amtsführung blockieren. Er wäre wohl eher eine Dekorationsfigur in der Art des aktuellen Vorstands des Parlaments, als ein Inbegriff staatlicher Autorität. Trotzdem würden einige Spielräume bleiben, um Schritte in Richtung des Ausstiegs aus der derzeitigen korrupten Militärregierung einzuleiten. Venezuela ist ein Präsidialregime, der Staatschef hat viel weiter reichende Kompetenzen als in vielen anderen Staaten. Selbst wenn man ihm überall Stöcke zwischen die Beine würfe, blieben ihm sicher hier und da noch Handlungsspielräume, vor allem in den Personalentscheidungen und in der Aussenpolitik. Es ist gut möglich, dass der Chavismus die Situation nutzen würde für eine generelle Verhandlung, mit dem Inhalt: “Wir lassen dich regieren, du erlaubst uns dafür den Rückzug unserer Kader und ihrer Kapitale, und die Weiterexistenz als legale politische Organisation.”
Nun ist Falcón selbst ja alles andere als ein Vorzeigefall des sauberen Politikers. Seine bisherigen Amtsführungen als Gouverneur waren von Korruptionsvorwürfen begleitet, aus seiner intimen Beziehung zu den grossen Privatfirmen macht er kein Geheimnis. Eine frontale Opposition gegen die herrschende Gevatterwirtschaft ist von ihm sicher nicht zu erwarten. Es ist aber durchaus davon auszugehen, dass bei einem Bruch der chavistischen Machthegemonie gesellschaftliche Kräfte ins Spiel kämen, die dem neuen Präsidenten als Unterstützung dienen würden, ihn andererseits aber auch beeinflussen und kontrollieren könnten. Denn unter den Venezolaner*innen herrscht eine dermassene Frustration über die herrschenden mafiösen Strukturen, dass wohl jeder Spielraum, wo mensch sich ohne drohende staatliche Verfolgung artikulieren könnte, begierig genutzt würde. Es ist unvorhersehbar, was hier passieren könnte, wenn der bleierne Deckel, der über allen liegt, etwas gelüpft würde. Jeder Schritt aber, der der herrschenden Mafia aus Militärs und Bürokraten Macht entzieht, öffnet Spielräume für die selbstbestimmte Artikulation der Menschen, und damit Optionen für emanzipatorische Prozesse. Selbst wenn diese Öffnung unter der Regie eines käuflichen Kapitalismusvertreters wie Falcón stattfände.
Was, wenn Maduro wieder gewählt wird?
Seit Jahren mobilisiert die Opposition auf diese Präsidentschaftswahlen, nur um jetzt, kurz vor den Wahlen, einen Rückzieher zu machen. In der Praxis heisst das, dass die letzte friedliche Chance zu einem Machtwechsel vertan wird. Selbst bei einem Wahlbetrug gäbe es ja ein neues Kampffeld, über das man mobilisieren könnte. Durch eine Beteiligung hätte man bessere Möglichkeiten gehabt, die Ergebnisse zu kontrollieren, zum Beispiel durch unabhängige Prozessbeobachter*innen. Es ist auffällig, dass dieser Wahlboykott von den NATO-Ländern unterstützt oder sogar orchestriert wird. Deren Interesse an einem Fortbestand der bestehenden Verhältnisse in Venezuela ist auf den ersten Blick vielleicht nicht ganz verständlich, folgt aber durchaus rationellen Kriterien. Zum einen hat man ja nicht wirklich etwas zu verlieren: der Handel mit Venezuela läuft trotz aller anders klingenden Propaganda wie am Schnürchen. Das Erdöl fliesst wie immer, und es ist in der jetzigen Situation sogar noch viel leichter, an lukrative Geschäfte zu kommen, als wenn man es mit einem funktionierenden souveränen Nationalstaat zu tun hätte. Venezuela bettelt heute förmlich darum, dass seine Rohstoffe von transnationalen Konzernen zu Schleuderpreisen extrahiert werden. Das Land hat sich auf Jahrzehnte hypothekiert in seiner verzweifelten Suche nach Bargeld, um den maroden Laden jeweils noch ein paar Wochen weiter betreiben zu können.
Noch wichtiger aber ist der ideologische Aspekt. So lange die Regierung Maduro weiter besteht, ist sie eine kostengünstige Werbung für das, was man ja schon immer wusste: “Sozialismus funktioniert nicht!” Man wird schwerlich ein besseres Beispiel dafür finden, und noch dazu, fast ohne einen Finger dafür krumm zu machen – alle wesentlichen Aspekte für ihr Nichtfunktionieren liefert die Regierung Maduro selbst. So stellt dieses Regime also keine aktuelle Bedrohung dar für das Funktionieren des weltweiten Systems der Akkumulation. Falls es aber zu Ende gehen soll mit dem “Sozialismus” in Venezuela, dann sollte der Untergang ein absoluter sein. Keine Reste der alten Ideen von sozialer Gerechtigkeit sollen überleben. Es geht nicht darum, den Gegner zu besiegen, denn das ist er schon. Es geht darum, ihn zu vernichten. Dafür aber braucht es einen Krieg. Nur ein gewaltsames Ende des Chavismus bietet die Möglichkeit, seine sozialen und organisatorischen Grundlagen komplett auszulöschen. Eine Ablösung, die innerhalb von trotz aller Manipulationen legalen Mechanismen wie einer Wahl erzeugt würde, böte dem Chavismus die Möglichkeit, Teile seiner akkumulierten Macht zu erhalten. Das ist für den “Westen” kein akzeptables Ende. Seine Strategie ist der Bürgerkrieg und die Intervention von aussen (Reihenfolge beliebig), um alle Reste von Autonomie zu zerstören und das Land mit seinen gewaltigen Erdölreserven für die nächsten Jahrzehnte wieder seiner Kontrolle zu unterwerfen.
Was bleibt?
Diese Wahlen sind wahrscheinlich die letzte Gelegenheit, um ein Ende der Regierg Maduro’s ohne Blutvergiessen zu ermöglichen. Danach bleibt vermutlich nur noch Krieg. Die Weichen dafür sind schon gestellt, für ein Szenario syrischer Art: Ein Exilparlament, repräsentiert durch die legale Nationalversammlung, eine Staatanwaltschaft im Exil (Luisa Ortega), ein oberster Gerichtshof im Exil, alle anerkannt von den Natoländern und Allierten. In Kolumbien steht ein Heer von Söldnern bereit: Angeblich entwaffnete Paramilitärs, die für etwas Geld leicht mobilisiert werden könnten. Und die kolmbianische Farc, die eine kriegerische Auseinandersetzung in Venezuela bisher zu einer riskanten Operation gemacht hätte, ist weitgehend entwaffnet. Als Anlass könnte beispielsweise der “humanitäre Kanal” dienen, also ein militärisch durchgesetzte Lieferung von Hilfsgütern, wie sie schon verschiedentlich angeregt wurde. Wie kann man sehenden Auges solch ein Situation herbeiwünschen?
Auch als Linke müssen wir eigentlich für die Wahlen sein. Denn abgesehen davon, dass wir auf keinen Fall das vorhersehbare Blutvergiessen wollen, würde diese einzige Alternative langfristig eine neoliberale Marionettenregierung der Nato bedeuten, in der viel mehr politischer Spielraum zerstört würde als bei einer eventuellen Mitte – Regierung, die ohne die Aufforderung zum Wahlboykott grosse Chancen auf einen Wahlsieg gehabt hätte.
Das Argument, dass mit einer Beteiligung an einem manipulierten Wahlsystem das bestehende Regime anerkannt wird, ist zwar formal richtig, aber politisch vollkommen irrelevant. Vorhandene Spielräume zu nutzen, auch wenn sie von einem illegitimen System gewährt werden, ist vernünftig und ethisch vertretbar. Es geht schliesslich darum, dieses System zu ändern.
Natürlich hätten wir lieber eine ausserparlamentarische Lösung gesehen, wo die Menschen die korrupten und verantwortungslosen Politiker*innen von Chavismus und rechter Opposition zum Teufel jagen, um den den sowie fast inexistenten Staat vollends aufzulösen und durch horizontale Selbstorganistation zu ersetzen. Leider aber sind die objektiven Bedingungen, die das aktuelle Venezuela ja geradezu prädestinieren für ein solches soziales Experiment, wieder mal weit entfernt von den subjektiven Wahrnehmungen und Bedürfnissen. Von einer Aufbruchstimmung ist hier nichts zu spüren, statt Kampfgeist, Selbstbewusstsein und Organisation von unten herrscht Resignation allenthalben.
Hoffentlich liegen wir mit unserer Einschätzung daneben. Vielleicht entfalten sich in dieser Situation von Verfall und Krise doch noch ganz andere Initiativen von Selbstverwaltung, die eine solche Stärke entwickeln, dass sie die korrupten und ineffizienten Bürokraten und Militärs, die dieses Land kontrollieren, einfach fortspülen. Man darf ja noch träumen…
(1) Empresas Polar ist die grösste Privatfirma Venezuelas, die das Land im wesentlichen mit Maismehl und Bier versorgt. Traditionell mit dem Chavismus verfeindet, hat dieser sich denoch nie an die immer wieder angekündigte Verstaatlichung der Firma gewagt.