Manipulierte Wahlen oder Bürgerkrieg?

Nachruf auf eine verpasste Chance.
Am 20 Mai finden in Venezuela Präsidentschaftswahlen statt, ohne Beteiligung der rechten Opposition und diskreditiert von der “internationalen Gemeinschaft”. Als einziger ernstzunehmender Gegner von Maduro tritt Henry Falcón an, früher selbst Chavist, bis er nach einem Streit mit Chavez wegen dessen Enteignung einiger Lagerhallen der Polar(1) die Partei verliess. Sein Programm ist diffus sozialdemokratisch, als wichtigster Punkt sticht die vorgeschlagene Einführung des Dollar als Landeswährung hervor. Die historische Vertretung der Opposition, die MUD, boykottiert bis auf wenige Ausnahmen die Wahlen, weil sie von einem zu erwartenden Wahlbetrug ausgeht und weil sie nicht durch ihre Beteiligung ein System legitimieren will, das sie als illegal einstuft. Ohne die Stimmen der rechten Opposition hat ein gemässigter Kandidat wie Falcón gegen Maduro wenig Chancen auf eine Mehrheit der Stimmen. Das Potential der MUD liegt bei etwa 30% der Wähler*innen, die den Aufruf zum Wahlboykott auch tatsächlich befolgen würden. Davon befindet sich ein wichtiger Teil zur Zeit im Ausland und ist dort sowieso nicht wahlbefähigt, weil die venezolanischen Konsulate die Einschreibung dieser Wähler*innen sabotieren. Das Potential des Chavismus liegt bei vier bis fünf Millonen sicheren Wähler*innen, dank der knapp vier Millonen staatlichen Angestellten, ökonomisch anderweitig Erpressbaren und seinen genuinen Anhänger*innen. Ausserdem gibt es eine riesige Gruppe der Bevölkerung, wohl mehr als ein Drittel der insgesamt 19 Millonen Wahlberechtigten, die sowohl vom Chavismus enttäuscht sind als auch von der historischen Opposition. Das ist das Potential, das Henry Falcón wengstens teilweise mobilisieren könnte. Für einen Wahlsieg wäre das aber wohl noch nicht ausreichend. Ein Teil der Stimmen wird ja auch auf die anderen drei Kandidaten entfallen, darunter ein Vetreter der gewerkschaftlichen Linken und der chavistischen Dissidenz. Nur wenn er auf die Stimmen der MUD zählen könnte, wäre ihm eine satte Mehrheit sicher.

Ist ein Wahlbetrug so sicher zu erwarten?
Im letzten Jahr fanden drei Wahlen statt: Die Wahl der Verfassungsgebenden Versammlung (ANC), Gouverneurswahlen und die der Bürgermeister*innen. Bei der ersten enthielt sich die Opposition vollständig, der Chavismus spielte Durchmarsch und sackte dank völlig willkürlichen und unkontrollierten Wahlmechanismen über acht Millonen Stimmen ein, das angeblich beste Ergebnis seiner Geschichte. Ein sehr offensichtlicher Wahlbetrug, den selbst die Firma Smartmatic denunzierte, die die Software für das elektronische Wahlsystem liefert. Smartmatic legte dar, dass die im System angelegten Mechanismen zur Kontrolle, die für gewöhnlich von allen beteiligten Parteien wahrgenommen werden, übergangen worden seien, und so die gleiche Person beliebig oft wählen konnte.
Die beiden folgenden Wahlen, bei denen Teile der Opposition zum Boykott aufriefen, aber andere Teile selbst Kandidat*innen aufstellten und die vorgesehenen Kontrollfunktionen wahrnahmen, wurden zwar mehrheitlich vom Chavismus gewonnen, teils wegen der massiven Manipulation und Erpressung der Wähler*innen von Seiten der Regierung, aber sicher auch dank der massiven Boykottaufrufe der Opposition. Wahlbetrug aber, also die willkürliche Änderung bereits erzielter Ergebnisse, konnte nur in wenigen Fällen nachgewiesen werden. Da, wo die Oppositionskandidaten mit einer deutlichen Mehrheit gewonnen hatten, wurden die Ergebnisse von der Regierung auch akzeptiert, wenn auch erst nach einem demütigendem Ritual, das der Legimitation der (nach allen rechtlichen Standards illegalen) ANC dienen sollte.
Für die kommenden Präsidentschaftswahlen sind ähnliche Rahmenbedingungen zu erwarten: Erpressung, Mobbing, Psychoterror, Schüren von Angst. Letztendlich bleibt die Wahl an sich aber geheim. Die Mechanismen des Chavismus zur Beeinflussung der Wahl sind in erster Linie manipulativer Natur. Das aktuelle Wahlsystem ist weder frei noch fair, doch ein offenener Wahlbetrug ist kaum zu erwarten, wenn die Opposition sich beteiligt und die Ergebnisse überwacht und verteidigt.

Was wäre, wenn besipielsweise Henry Falcón als Wahlsieger anerkannt würde?
Auch bei einer gewonnenen Wahl würde der neue Präsident nicht einfach regieren können. Die Wahlen wurden (verfassungswidrig) mit einer Übergangszeit von acht Monaten bis zur eigentlichen Amtsübergabe anberaumt. Die ANC würde die Zeit wohl nutzen, um den Präsidenten bis dahin einiger seiner wichtigen Kompetenzen zu berauben. Die Armee und andere vom Chavismus besetzten Institutionen würden den neuen Präsidenten in seiner Amtsführung blockieren. Er wäre wohl eher eine Dekorationsfigur in der Art des aktuellen Vorstands des Parlaments, als ein Inbegriff staatlicher Autorität. Trotzdem würden einige Spielräume bleiben, um Schritte in Richtung des Ausstiegs aus der derzeitigen korrupten Militärregierung einzuleiten. Venezuela ist ein Präsidialregime, der Staatschef hat viel weiter reichende Kompetenzen als in vielen anderen Staaten. Selbst wenn man ihm überall Stöcke zwischen die Beine würfe, blieben ihm sicher hier und da noch Handlungsspielräume, vor allem in den Personalentscheidungen und in der Aussenpolitik. Es ist gut möglich, dass der Chavismus die Situation nutzen würde für eine generelle Verhandlung, mit dem Inhalt: “Wir lassen dich regieren, du erlaubst uns dafür den Rückzug unserer Kader und ihrer Kapitale, und die Weiterexistenz als legale politische Organisation.”
Nun ist Falcón selbst ja alles andere als ein Vorzeigefall des sauberen Politikers. Seine bisherigen Amtsführungen als Gouverneur waren von Korruptionsvorwürfen begleitet, aus seiner intimen Beziehung zu den grossen Privatfirmen macht er kein Geheimnis. Eine frontale Opposition gegen die herrschende Gevatterwirtschaft ist von ihm sicher nicht zu erwarten. Es ist aber durchaus davon auszugehen, dass bei einem Bruch der chavistischen Machthegemonie gesellschaftliche Kräfte ins Spiel kämen, die dem neuen Präsidenten als Unterstützung dienen würden, ihn andererseits aber auch beeinflussen und kontrollieren könnten. Denn unter den Venezolaner*innen herrscht eine dermassene Frustration über die herrschenden mafiösen Strukturen, dass wohl jeder Spielraum, wo mensch sich ohne drohende staatliche Verfolgung artikulieren könnte, begierig genutzt würde. Es ist unvorhersehbar, was hier passieren könnte, wenn der bleierne Deckel, der über allen liegt, etwas gelüpft würde. Jeder Schritt aber, der der herrschenden Mafia aus Militärs und Bürokraten Macht entzieht, öffnet Spielräume für die selbstbestimmte Artikulation der Menschen, und damit Optionen für emanzipatorische Prozesse. Selbst wenn diese Öffnung unter der Regie eines käuflichen Kapitalismusvertreters wie Falcón stattfände.

Was, wenn Maduro wieder gewählt wird?
Seit Jahren mobilisiert die Opposition auf diese Präsidentschaftswahlen, nur um jetzt, kurz vor den Wahlen, einen Rückzieher zu machen. In der Praxis heisst das, dass die letzte friedliche Chance zu einem Machtwechsel vertan wird. Selbst bei einem Wahlbetrug gäbe es ja ein neues Kampffeld, über das man mobilisieren könnte. Durch eine Beteiligung hätte man bessere Möglichkeiten gehabt, die Ergebnisse zu kontrollieren, zum Beispiel durch unabhängige Prozessbeobachter*innen. Es ist auffällig, dass dieser Wahlboykott von den NATO-Ländern unterstützt oder sogar orchestriert wird. Deren Interesse an einem Fortbestand der bestehenden Verhältnisse in Venezuela ist auf den ersten Blick vielleicht nicht ganz verständlich, folgt aber durchaus rationellen Kriterien. Zum einen hat man ja nicht wirklich etwas zu verlieren: der Handel mit Venezuela läuft trotz aller anders klingenden Propaganda wie am Schnürchen. Das Erdöl fliesst wie immer, und es ist in der jetzigen Situation sogar noch viel leichter, an lukrative Geschäfte zu kommen, als wenn man es mit einem funktionierenden souveränen Nationalstaat zu tun hätte. Venezuela bettelt heute förmlich darum, dass seine Rohstoffe von transnationalen Konzernen zu Schleuderpreisen extrahiert werden. Das Land hat sich auf Jahrzehnte hypothekiert in seiner verzweifelten Suche nach Bargeld, um den maroden Laden jeweils noch ein paar Wochen weiter betreiben zu können.
Noch wichtiger aber ist der ideologische Aspekt. So lange die Regierung Maduro weiter besteht, ist sie eine kostengünstige Werbung für das, was man ja schon immer wusste: “Sozialismus funktioniert nicht!” Man wird schwerlich ein besseres Beispiel dafür finden, und noch dazu, fast ohne einen Finger dafür krumm zu machen – alle wesentlichen Aspekte für ihr Nichtfunktionieren liefert die Regierung Maduro selbst. So stellt dieses Regime also keine aktuelle Bedrohung dar für das Funktionieren des weltweiten Systems der Akkumulation. Falls es aber zu Ende gehen soll mit dem “Sozialismus” in Venezuela, dann sollte der Untergang ein absoluter sein. Keine Reste der alten Ideen von sozialer Gerechtigkeit sollen überleben. Es geht nicht darum, den Gegner zu besiegen, denn das ist er schon. Es geht darum, ihn zu vernichten. Dafür aber braucht es einen Krieg. Nur ein gewaltsames Ende des Chavismus bietet die Möglichkeit, seine sozialen und organisatorischen Grundlagen komplett auszulöschen. Eine Ablösung, die innerhalb von trotz aller Manipulationen legalen Mechanismen wie einer Wahl erzeugt würde, böte dem Chavismus die Möglichkeit, Teile seiner akkumulierten Macht zu erhalten. Das ist für den “Westen” kein akzeptables Ende. Seine Strategie ist der Bürgerkrieg und die Intervention von aussen (Reihenfolge beliebig), um alle Reste von Autonomie zu zerstören und das Land mit seinen gewaltigen Erdölreserven für die nächsten Jahrzehnte wieder seiner Kontrolle zu unterwerfen.

Was bleibt?
Diese Wahlen sind wahrscheinlich die letzte Gelegenheit, um ein Ende der Regierg Maduro’s ohne Blutvergiessen zu ermöglichen. Danach bleibt vermutlich nur noch Krieg. Die Weichen dafür sind schon gestellt, für ein Szenario syrischer Art: Ein Exilparlament, repräsentiert durch die legale Nationalversammlung, eine Staatanwaltschaft im Exil (Luisa Ortega), ein oberster Gerichtshof im Exil, alle anerkannt von den Natoländern und Allierten. In Kolumbien steht ein Heer von Söldnern bereit: Angeblich entwaffnete Paramilitärs, die für etwas Geld leicht mobilisiert werden könnten. Und die kolmbianische Farc, die eine kriegerische Auseinandersetzung in Venezuela bisher zu einer riskanten Operation gemacht hätte, ist weitgehend entwaffnet. Als Anlass könnte beispielsweise der “humanitäre Kanal” dienen, also ein militärisch durchgesetzte Lieferung von Hilfsgütern, wie sie schon verschiedentlich angeregt wurde. Wie kann man sehenden Auges solch ein Situation herbeiwünschen?
Auch als Linke müssen wir eigentlich für die Wahlen sein. Denn abgesehen davon, dass wir auf keinen Fall das vorhersehbare Blutvergiessen wollen, würde diese einzige Alternative langfristig eine neoliberale Marionettenregierung der Nato bedeuten, in der viel mehr politischer Spielraum zerstört würde als bei einer eventuellen Mitte – Regierung, die ohne die Aufforderung zum Wahlboykott grosse Chancen auf einen Wahlsieg gehabt hätte.
Das Argument, dass mit einer Beteiligung an einem manipulierten Wahlsystem das bestehende Regime anerkannt wird, ist zwar formal richtig, aber politisch vollkommen irrelevant. Vorhandene Spielräume zu nutzen, auch wenn sie von einem illegitimen System gewährt werden, ist vernünftig und ethisch vertretbar. Es geht schliesslich darum, dieses System zu ändern.
Natürlich hätten wir lieber eine ausserparlamentarische Lösung gesehen, wo die Menschen die korrupten und verantwortungslosen Politiker*innen von Chavismus und rechter Opposition zum Teufel jagen, um den den sowie fast inexistenten Staat vollends aufzulösen und durch horizontale Selbstorganistation zu ersetzen. Leider aber sind die objektiven Bedingungen, die das aktuelle Venezuela ja geradezu prädestinieren für ein solches soziales Experiment, wieder mal weit entfernt von den subjektiven Wahrnehmungen und Bedürfnissen. Von einer Aufbruchstimmung ist hier nichts zu spüren, statt Kampfgeist, Selbstbewusstsein und Organisation von unten herrscht Resignation allenthalben.
Hoffentlich liegen wir mit unserer Einschätzung daneben. Vielleicht entfalten sich in dieser Situation von Verfall und Krise doch noch ganz andere Initiativen von Selbstverwaltung, die eine solche Stärke entwickeln, dass sie die korrupten und ineffizienten Bürokraten und Militärs, die dieses Land kontrollieren, einfach fortspülen. Man darf ja noch träumen…

(1) Empresas Polar ist die grösste Privatfirma Venezuelas, die das Land im wesentlichen mit Maismehl und Bier versorgt. Traditionell mit dem Chavismus verfeindet, hat dieser sich denoch nie an die immer wieder angekündigte Verstaatlichung der Firma gewagt.

Zur Diskussion um Venezuela – Reaktion von „Nina Hagen“ auf unseren letzten Beitrag „Der ausbleibende Aufstand“

Nach seiner politischen Unabhängigkeit ist Venezuela in einem halbkolonialen Status gefangen und den Interessen von US-Regierungen und Ölkonzernen unterworfen geblieben. Die Ölgesetze wurden ab den 1920ern von ausländischen Ölfirmen zusammen mit der einheimischen Kompradorenbourgeoisie formuliert. Jahrzehntelang konnten sie dort Rekordprofite einfahren. Die strategische Bedeutung des Landes zeigte sich in seiner Funktion als „Tankstelle“ der US-Armee während des zweiten Weltkrieges.
Nach einer langen Phase von Diktaturen lösten sich ab 1958 die beiden größten Parteien einvernehmlich 40 Jahre lang beim mehr oder weniger demokratischen Regieren ab.
Bei einer Anti-IWF-Revolte massakrierte die Armee 1989 viele 100 Menschen. Das blieb ohne größere Resonanz bei den Verteidiger*innen der Menschenrechte in Europa. Bald danach begann der Aufbau der neuen politischen Formation („Bewegung der Fünften Republik“), der in die Präsidentschaftskandidatur von Chávez mündete.
Aus dieser Konstellation erklären sich 1999 die großen Hoffnungen der verarmten Massen in den neuen Präsidenten Chávez. Sie erklärt auch die „Vorbehalte“ der US-Regierung und eines Teils der traditionellen Eliten gegen die neuen Töne aus dem Präsidentenpalast.

„Was hat den chavismo bloß so ruiniert?“ fragt der Vorspann des Artikels von Basuca in der ila 413. Was Basuca korrekt beschreibt, war im chavistischen Projekt strukturell angelegt und lange vor März 2013, als endlich Chávez‘ Tod verkündet wurde, auf kleinerer Stufenleiter Realität: Unliebsame Kader der Revolution wurden kaltgestellt, die Korruption umklammerte Herz und Hirn des neuen und alten Staats- und Parteiapparats, hunderte Mrd Dollar wurden mit seiner Hilfe ins Ausland verschoben, ein normaler Lohn reichte nicht zum Leben. Die angeblich umfassende staatliche Kontrolle des alles entscheidenden Ölsektors „zugunsten des Volkes“ („el petróleo es nuestro“ 1) war ein gut inszeniertes Propagandaprojekt, das nicht über den Aufbau von empresas mixtas unter verstärkter Beteiligung des Staatskonzerns PDVSA hinausging. Und: Der comandante supremo wurde zum weltlichen Opium des Volkes hochstilisiert.
Chávez hat nie ein anderes Projekt verfolgt als Maduro: Antiimperialistische Rhetorik, von oben kontrollierte Bürger*innenbeteiligung, paternalistische Sozialprogramme. Das nationale Kapital wurde nicht angetastet, der größte (Lebensmittel)-Konzern, Polar, macht bis heute Gewinne. Das Importkapital wurde mit der Zuteilung billiger Dollars eingebunden: Ab 2005 verkaufte der Staat sog. Präferenzdollar für lächerliche 10 Bolívares. Neben einem Teil der alten Bourgeoisie bereichern sich bis heute Zehntausende Kader*innen der sozialistischen Partei, des Staatsapparats und – in zunehmendem Ausmaß – des Militärs. Deshalb halten sie so verbissen am „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ fest.

Entgegen allen programmatischen Überlegungen hat der chavismo in der Praxis immer und ausschließlich aufs Öl gesetzt. Um die Massen mit einem Teil der Öleinnahmen zu befrieden und so die nächsten Wahlen zu gewinnen. Er profitierte von der Hochpreisphase des Erdöls. Kurz nach dem Preiseinbruch 2008/09 wurde ein typisches Sparpaket geschnürt: Erhöhung des Mindestlohns weit unterhalb der Inflationsrate, Erhöhung der Mehrwertsteuer (die unterschiedslos alle, also vor allem die Armen trifft) von 9 auf 12 %, Verringerung der Staatsausgaben. Der staatliche Ölkonzern PDVSA berichtete von massiven Senkungen bei den Sozialprogrammen, die aus seinen Devisentöpfen bestritten wurden.

Arbeiter*innenkämpfe wurden repressiv niedergemacht, wenn sie nicht im Sinn des Regimes waren wie z.B. beim staatseigenen Stahlkonzern SIDOR in Guayana oder bei Mitsubishi in Barcelona. Die Leninsche Vorstellung von der korrupten Arbeiteraristokratie in den imperialistischen Ländern wurde nicht nur gegen die venezolanische Arbeiterelite in der Ölindustrie gerichtet, wo 200.000 Arbeiter den Reichtum des Landes mit 30 Mio Einwohner*innen produzieren. Auch Streiks von Metro- und Krankenhausarbeiter*innen wurden denunziert, weil sie angeblich auf Kosten „des Volkes“ die Erhöhung ihrer (Mindest)-Löhne einforderten. Die fábricas recuperadas bekamen staatliche Aufseher, häufig waren das frühere Militäroffiziere. „Arbeiterkontrolle“ bedeutete „Kontrolle der Arbeiter*innen“.

Es gab nach 1999 zwei Situationen, wo sich die Volksmacht in geballter Weise eigenständig und ohne Kontrolle von oben zu Wort gemeldet hat: Gegen den Putschversuch 2002 und gegen den „paro petrolero“ 2002/03.
2002 wurden die Massen von Chávez persönlich wieder nach Hause geschickt
und mit der programmatisch-rhetorischen Radikalisierung Richtung „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ beruhigt. 2003 wurde von oben eine neue Führung bei der PDVSA eingesetzt, die Vorschläge der Techniker-Arbeiter*innen, die die Produktion während des „Streiks von oben“ aufrechterhalten hatten, wurden ignoriert.

Die Vorstellung, mit Chávez sei alles besser gewesen, wird gerne gepflegt. Zum Beispiel in solchen graffiti, die dem omnipräsenten – Che Guevara stilsicher nachempfundenen – Chávez-Antlitz Sprüche wie „Maduro, Du hast mein Herz verraten!“ in den Mund legen. Die Kritik am „Verräter“ Maduro mithilfe des Chávez-Mythos ist eine weitere Variante der von Basuca kritisierten Bittstellermentalität: „Wir wollen einen besseren Chef, der sich um alles kümmert“.
Chávez‘ Politik war dem Diktat der Staatsverschuldung und des sinkenden Ölpreises unterworfen. Das arco-minero-Projekt, das seit knapp zwei Jahren in einer riesigen Sonderwirtschaftszone den Abbau von Gold, Diamanten, Koltan u.a. in die Hände kanadischer Konzerne gelegt hat, wurde bereits 2009 diskutiert. Es war klar, dass der hohe Ölpreis nicht ewig halten würde. Das immer wacklige Modell „Rohstoffverkauf auf dem Weltmarkt“ wurde lediglich um einige Produkte erweitert.

Basuca verweist (hoffnungsvoll?) auf Plünderungen von Lastwagen mit Lebensmitteln durch „hungrige Anwohner*innen“ bzw „ganze comunidades“. Das ist höchstens die halbe Wahrheit. Einen Teil der Plünderungen organisiert die private und halbstaatliche Mafia, die ihre Beute später auf der Straße verkauft. Der größte Teil von „abgezweigten“ Lebensmitteltransporten geht auf Korruption in den Verteilungsstrukturen zurück. Diese reicht vom Hafen in La Guaira, wo die Lieferungen aus Mexico etc anlanden bis in die Verteilungskomitees in den barrios. Die Maduro-Regierung denunziert alle Plünderungen als volksfeindlich, auch wenn offensichtlich ein Teil der eigenen Basis beteiligt ist.

Basuca erinnert an den Caracazo, als 1989 Zehntausende gegen ein von der damaligen Regierung bereitwillig umgesetztes IWF-Sparprogramm demonstrierten und sich massenweise an Plünderungen beteiligten. Diese spontan ausgebrochene Revolte hatte eine lange Vorgeschichte in selbstorganisierten barrio-Strukturen sowie den Organisierungsversuchen von kleinen Parteien und (Stadt)-Guerillagruppen. Der chavismo hat genau solche Strukturen erfolgreich in sein staatliches Projekt integriert, Basis-Aktivist*innen regelrecht mit Geld zugeschissen, die Massen jedes Jahr in eine demokratische Wahl gehetzt, bei denen es angeblich immer um „alles oder nichts“ ging. Auf diese Weise wurden auch radikalere Initiativen, für die der chavismo Spielräume hätte öffnen können, so zumindest die Hoffnung vieler seiner Sympathisant*innen, von vornherein nachhaltig kooptiert.

In der aktuellen Phase absoluter Lebensmittel- und Medikamentenknappheit beziehen sich viele Menschen ausschließlich auf ihre unmittelbaren Familienstrukturen. Das ist plausibel, schlägt aber häufig bereits der Nachbarin die Tür vor der Nase zu. Eine kollektive Überlebensstrategie, die über den Tag hinausreicht, ist aktuell kaum noch auffindbar.
Es gibt nur wenige Initiativen, die jenseits des Streits zwischen Regierung und US-höriger Opposition politisch eingreifen und/oder Schritte zur praktischen Selbsthilfe bei der Organisierung des Alltags unternehmen. Das ist nicht zu verwechseln mit der Abhängigkeit von irgendwelchen Programmen aus Caracas, deren Mittel zu häufig im Sumpf der allgegenwärtigen Korruption versickern. Eine Vernetzung solcher Initiativen ist nicht bisher erkennbar, es sei denn, wir begreifen die Aufstellung von einigen eigenen Kandidaten der kommunistischen Partei gegen die der PSUV bei den kürzlichen Bürgermeister*innenwahlen als solche.

Die Mittelschicht wandert aus. Das Regime profitiert kurzfristig von den Geldsendungen dieser Migrant*innen sowie von der Abwesenheit 100.000er potentieller Wähler*innen der Opposition. Das (Lumpen)-Proletariat bleibt im Land. Es wird – in größer werdenden Abständen mit staatlichen Lebensmittelpaketen abgespeist. Diese werden gezielt vor allem in den Armenvierteln eingesetzt.

Auch so erklärt sich, dass im Dezember 2017 bei den Wahlen der Bürgermeister*innen ca ein Drittel der Wahlberechtigten, sieben Mio Menschen, die von oben ernannten „Kandidat*innen des Volkes“ der sozialistischen Partei gewählt haben. Die Propagandamaschine von Partei-, Staats- und Militärapparat brummte in den Wochen vor der Wahl auf Hochtouren, im Fernsehen liefen Reportagen über die Verteilung von Weihnachtspaketen durch „die Kandidaten des Volkes“.

Die von USA/EU gesponsorte politische Opposition ist für die Massen keine Alternative. Wer an linke Wahlalternativen glauben möchte, bekam im Bezirk Libertador der Hauptstadt im Dezember 2017 eine Antwort: Eduardo Saman, von Chávez 2008 rausgeworfener sehr populärer Minister, kandidierte u.a. für die kommunistische Partei gegen PSUV. Er bekam 50.000 Stimmen, die PSUV-Kandidatin 400.000.
Die Volksmacht von unten wird sich in Zukunft hoffentlich anders zu artikulieren wissen. Möglicherweise durch massives Ignorieren der Präsidentenwahl am 20. Mai.

Das alles verweist darauf, dass soziale Revolution nur weltweit möglich sein wird. Wir sollten auch in der BRD unseren Anteil leisten.

Nina Hagen

1 http://www.cinerebelde.org/nuestro-petroleo-otros-cuentos-p-66.html

Der ausbleibende Aufstand

Venezuela zwischen Resignation und Widerstand

Der Zusammenbruch der venezolanischen Wirtschaft beschleunigt sich. Seit Oktober herrscht im Land offiziell Hyperinflation, mit einer monatlichen Erhöhung von über 50%. Die Inflation im Dezember war die brutalste in der Geschichte des Landes: Um 129% sind die Preise in nur einem Monat gestiegen. Die notwendigen Nahrungsmittel für eine fünfköpfige Familie haben im Dezember 16,5 Millonen Bolivar gekostet (laut CENDAS), das entspricht 93 mal dem gesetzlichen Mindestlohn. Die staatlichen Lebensmittelpakete (CLAP), die laut Regierungspropaganda eigentlich zweiwöchentlich für relativ wenig Geld an alle Haushalte verteilt werden sollten, werden rar. In Caracas, von der Regierung schon immer bevorzugt wegen seiner sozialen Brisanz, kommen die ersehnten Kisten immer seltener, in der Provinz teilweise nur noch zweimal im Jahr.
Neben der schieren Unmöglichkeit, sich zu ernähren, leidet die arbeitende Bevölkerung noch unter einer Reihe anderer Probleme, die den Alltag zur Tortur machen. Die von Privatleuten betriebenen öffentlichen Verkehrsmittel werden (wegen unerschwinglicher oder fehlender Ersatzteile) immer weniger und immer teurer, die billigen staatlichen Transporte sind vollkommen überlastet. Und zu den ständig steigenden Preisen kommt eine permanente Knappheit von Bargeld, weil die reale Versorgung des Landes mit Nahrungsmitteln immer mehr über den massiven Schmuggel aus dem benachbarten Ausland stattfindet, der wegen der Unmöglichkeit, an Devisen zu kommen, in der venezolanischen Währung Bolívar (Bs.) stattfindet. Dementsprechend stapelt sich an den Grenzen zu Kolumbien und Brasilien das Geld und wird dadurch natürlich noch schneller entwertet.
Die nationale Produktion befindet sich im freien Fall. Zum einen führt die gesetzliche Festlegung der Verkaufspreise in vielen Fällen dazu, dass eine rentable Herstellung von Gütern legal gar nicht möglich ist. Die Preise werden vom Staat stets sehr knapp über den Herstellungs- und Vertriebskosten festgesetzt, manchmal auch darunter, weil die zuständigen Beamten oft wenig Ahnung von den realen Prozessen haben. Dann vergehen immer viele Monate, bis der Preis neu festgesetzt wird, was bei der galoppierenden Inflation dazu führt, dass schon kurz nach der Festsetzung der legale Verkaufspreis die Kosten nicht mehr deckt. Einige kleinere Produzenten und Händler scheren sich nicht darum und verkaufen die Produkte, wie sie wollen, aber für grössere Firmen ist das nicht machbar, weil sie zu leicht kontrolliert werden können. Sie stellen dann die Produktion ein.
Am schlimmsten betroffen von dieser Preisfalle sind die staatlichen Unternehmen, weil sie ihre eigenen Regeln ja schlecht brechen können. So hat z.B die verstaatlichte Molkereifabrik „Lácteos Los Andes“ seit Jahren keine Milchprodukte mehr im Angebot, weil kein Bauer auf die Idee käme, ihr seine Milch unter dem Herstellungspreis zu verkaufen. Die Zuckerrohrbauern vom Bundesstaat Portuguesa fahren ihre Ernte Hunderte von Kilometern über die Anden, um sie in den kleinen Familienmühlen von Ejido verarbeiten zu lassen, weil die staatliche Zuckerzentrale in Portuguesa ihnen nicht so viel zahlen darf wie die Familienbetriebe im Süden Méridas. Der gesetzlich festgelegte Zuckerpreis liegt bei 18.758 Bs., die Produzenten argumentieren, dass sie einen Preis von mindestens 60.000 Bs. bräuchten, um funktionieren zu können. In den Supermärkten ist Zucker seit Jahren nicht mehr erhältlich, auf der Strasse kostet der aus Brasilien und Kolumbien von Schmugglern importierte Zucker derzeit um die 200.000 Bs. In den letzten zehn Jahren ist die Zuckerproduktion im Land um 59 % gefallen.
Zum allgemeinen Rückgang der Produktion gesellt sich die massive Auswanderung qualifizierter Arbeitskräfte. Zwei Millonen Venezolaner*innen sollen in den letzten beiden Jahren das Land verlassen haben auf der Suche nach Arbeit, vor allem in Südamerika. Die meisten von ihnen kommen aus der Mittelschicht und haben eine universitäre Ausbildung, denn die Ärmeren können sich die Reise kaum leisten. Diese qualifizierten Fachkräfte stehen dem nationalen Arbeitsmarkt zumindest mittelfristig nicht mehr zur Verfügung.
Der gewichtigste Faktor für den Rückgang der Produktion aber ist die Knappheit von Devisen. Da die Regierung fast alle Dollars, die das staatliche Erdölunternehmen Pdvsa erwirtschaftet, zur Schuldentilgung einsetzt, und der Erwerb von Dollars ausserhalb des staatlich festgelegten Wechselkurses verboten ist, gibt es kaum noch Devisen für die nötigen Rohstoffe und Ersatzteile. Ein Grossteil der nationalen industriellen Kapazitäten liegt deswegen brach. Infolgedessen werden auch weniger Teile und Stoffe, die bisher im Land hergestellt wurden, geliefert, was wiederum die Notwendigkeit von Importen erhöht. Ein Teufelskreis, der sich innerhalb des bestehenden Regelwerks kaum durchbrechen lässt.
Die vollkommen entfesselte Delinquenz und die zunehmenden Hungerrevolten machen es auch nicht leichter, Güter zu produzieren und zu transportieren. So fahren in weiten Teilen des Landes die Lebensmitteltransporte nur noch im Konvoi, weil hungrige Anwohner*innen immer wieder die Überlandstrassen sperren und Lastwagen plündern.
Fazit: Viele Unternehmen haben dicht gemacht, die Industrie läuft auf Minimum, in den Strassen sieht man immer mehr geschlossene Läden. In den vergangenen zwei Jahren ist die Produktion in Venezuela um 25% zurückgegangen.

Angesichts dieses Panoramas erhebt sich die logische Frage: Wann reicht es den Leuten? Wann kommt der Punkt, wo sie einfach nicht mehr können und es zur sozialen Explosion kommt, mit oder ohne politischer Strategie? Wir haben Anfang Februar willkürlich Leute auf der Strasse danach befragt. Ihre Antworten geben Einblick in ihre subjektiven Nöte und deren möglicher Lösungen in einem widersprüchlichen Spannungsfeld zwischen Resignation, Hoffnung und Widerstand.

Pilar, 29 Jahre, ist alleinstehend ohne Kinder, wohnt bei ihrer Mutter in Lagunillas und arbeitet als Verkäuferin in einer 20 km entfernten Bäckerei für den Mindestlohn (790.000 Bs. monatlich). Als ihr persönlich wichtigstes Problem empfindet sie die täglichen Fahrtkosten zu ihrem Arbeitsplatz und zurück, die mit privaten Buslinien 420.000 Bs. monatlich betragen und damit über die Hälfte ihres monatlichen Einkommens beanspruchen. Mit der staatlichen Buslinie reduzieren sich die Kosten zwar erheblich, aber wegen der langen Wartezeiten muss sie einen sehr viel höheren Zeitaufwand in Kauf nehmen und wendet bis zu fünf Stunden am Tag für An- und Rückfahrt zum und vom Arbeitsplatz auf. An zweiter Stelle, aber genauso dringlich, empfindet sie die schlechte Versorgungslage mit Lebensmitteln und die Zeit, die sie investieren muss, um sie zu kaufen. Pilar hat auf zweierlei Ebenen persönlich auf die Krisensituation reagiert. Zum einen ist sie aktives Mitglied in der Partei Primero Justicia und nimmt an deren Veranstaltungen und Protestaktionen teil, wie den zwischen Februar und August 2017 durchgeführten Demonstationen und Strassensperren Zum anderen hat sie vergangenes Jahr an einer spontanen Strassenaktion teilgenommen, in deren Rahmen aufgebrachte Bürger den Verkauf von gehorteter Milch erzwungen und sich gegen staatliche Sicherheitskräfte zur Wehr gesetzt hatten. Es bedürfe ihrer Meinung nach wohl einer Hungersnot, in Kombination mit einer totalen Aussichtslosigkeit auf Besserung der Situation, bis sich eine grosse Anzahl von Menschen zum persönlichen Handeln in Form von Strassenprotestaktionen gezwungen sähen. Sie macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass die Belieferung der Bevölkerung mit den staatlichen Lebensmittelpaketen nur so sporadisch stattfindet, dass die Lebensmittelnotlage dadurch nicht gemildert und die Krisensituation nicht entschärft wird. Darüberhinaus meint sie, wenn die Hauptstadt Caracas sich nicht in Gestalt von nachhaltigen Protesten aktiviere, würde sich im Rest des Landes auch nichts, oder zumindest nichts Entscheidendes, bewegen. Dieser Tatsache sei sich die Regierung bewusst und daher achte sie darauf, dass in den Armenvierteln der Hauptstadt die Lebensmittelversorgungslage nicht in den kritischen Bereich abrutscht. Gleichzeitig fördere die Regierung zu ihrer Verteidigung eine bewaffnete Miliz in den Armenvierteln. Pilar hat „selbstverständlich Hoffnung“, dass sich die Situation bald ändert, ist jedoch fest davon überzeugt, dass sich dies nicht auf demokratischem Wege, also über Wahlen erreichen lasse. Sie führt die von regierungstreuen Funktionären beherrschten und im Regierungsinteresse instrumentalisierten Institutionen Oberster Gerichtshof und Oberste Wahlbehörde als Beispiele auf. Ihrer Überzeugung nach kann nur der öffentliche Druck in Form von Protesten und Strassenkämpfen, bzw. in allerletzter Instanz ein gewaltsamer Umsturz der Regierung eine Veränderung im Lande herbeiführen. Von den Präsidentschaftswahlen erwartet sie nichts; sie erachtet das Militär als entscheidenden Faktor und „Hoffnungsträger“ für Veränderung. Die oberen Ränge seien zwar gekauft und fest ins gesamte System der Korruption und des Klientelismus eingebettet, aber die grosse Mehrheit der unteren Ränge gehörten zum verarmten Volk und leidet genauso unter der Krisensituation wie die Zivilbevölkerung.

Auf dem Flughafen von Caracas wartet Carlos mit einer Gruppe von vier Freunden, alle Mitte dreissig, auf den Weiterflug in Richtung Peru, wo sie Arbeit suchen wollen. Sie kommen aus Margarita und haben dort in der Tourismusbranche gearbeitet, aber das Geld, das sie dort verdient haben, reicht ihnen nicht mehr zum Leben. Sie sagen, sie wollen zurück nach Venezuela kommen, sobald das Land wieder „frei“ ist. Carlos ist nicht damit einverstanden, dass ein wichtiger Sektor der Opposition zum Wahlboykott aufruft. Er meint zwar, dass die Regierung keine sauberen Wahlen abhält, aber dass eine massive Wahlbeteiligung mit eindeutiger Mehrheit eine Basis für neue Kämpfe böte, um die Stimmen zu verteidigen, selbst wenn die Ergebnisse manipuliert würden. Das könnte in seinen Augen auch zu einer stärkeren Einmischung aus dem Ausland beitragen. Eine militiärische Intervention von aussen lehnt er allerdings kategorisch ab.

Luis, 39, ist Taxifahrer aus Carúpano. Im November 2016 war er nach Caracas gefahren, auf die grosse Demonstration als Reaktion auf die versuchte Auflösung des Parlaments durch den obersten Gerichtshof. Er sagt, er war damals bereit, den Präsidentschaftspalast zu stürmen, um die Regierung zu stürzen, auch wenn er dabei sein Leben gelassen hätte. Er fühlt sich von den Vetretern der Opposition verraten, die seinerzeit auf Bitte des Papstes den geplanten Marsch auf den Regierungssitz abgesagt haben und Verhandlungen mit der Regierung begannen. Er ist überzeugt, dass über Wahlen keine Änderung mehr möglich ist. Eine friedliche Lösung sei nicht mehr möglich, nur gewaltsam könne die Regierung beseitigt werden. Notfalls auch mit Hilfe des Auslands.

In der Schlange im Supermarkt reden wir mit Sandra, 46 Jahre, aus Ejido, alleinstehend mit zwei Kindern. Sie verdient als Aushilfskellnerin in einem Gasthof einen halben Mindestlohn. Ihr drängendstes Problem ist die schlechte Versorgungslage mit Nahrungsmitteln und die ständige, ausser Kontrolle geratene Verteuerung. Sie kann sich aufgrund ihres minimalen Einkommens ausschliesslich subventionierte Lebensmittel leisten, was sie dazu zwingt, einen grossen Teil ihrer Zeit mit der Suche danach, und in den langen Warteschlangen zu verbringen. Sie hat sich einen Tag in der Woche reserviert, an dem sie nur auf Lebensmittelsuche geht. Sandra hat bis jetzt nicht persönlich auf die Situation reagiert,. Sie ist weder politisch organisiert oder engagiert, noch hat sie an spontanen Protesten teilgenommen. „Was nutzt das denn?“, fragt sie. „Es ändert doch eh‘ nichts an der Situation“. Man müsse halt aushalten, die Lage durchstehen. Hoffnung, dass sich die Situation ändert, hat sie schon irgendwie, wobei sie auf eine Art „natürlichen Verlauf“ der Dinge setzt: „Alles was seinen Anfang genommen hat, findet auch irgendwann ein Ende“. Klar geht sie in den Präsidentschaftswahlen wählen, sagt sie, hat aber wenig Hoffnung, dass bei einem Gewinn der Opposition sich wirklich etwas für die Leute verändern würde.

In der gleichen Schlange steht Ramona Altuve, 45 Jahre, alleinstehend, ein Sohn, auch aus Ejido. Sie ist Angestellte in einem Laboratorium zur Herstellung naturheilkundlicher Arzneimittel und verdient den Mindestlohn. Sie stellt die Lebensmittel- und Medikamentenknappheit und -Verteuerung auf ein und diesselbe Dringlichkeitsstufe, da beides für sie mit der Erhaltung von Leib, Leben und Gesundheit verbunden sei. Ramona hat ihrem Unmut und ihrer Entrüstung aktiv Ausdruck verliehen, indem sie an Unterschriftenaktionen der Opposition, an einigen Demonstrationen und an sämtlichen Wahlen teilgenommen hat in dem Bestreben, der Regierung und ihrer „verheerenden Politik“ entgegenzusteuern. Das ist für sie das Minimum, was sie als Bürgerin beitragen kann und muss, um einen Regierungs- und Kurswechsel der Politik zumindest zu befördern versuchen. Ihrer Meinung nach liegt es am weitverbreiteten Konformismus und auch an der zunehmenden Angst vor Repressalien seitens der staatlichen Sicherheitsorgane, dass ein Grossteil der Venezolaner sich nicht aktiv an Protestveranstaltungen oder Spontan-Aktionen beteiligt. Ein weiterer Faktor sei die „Spendierhosentaktik“ der Regierung, mit der immer wieder die ganz unmittelbaren, kurzfristigen Bedürfnisse ihrer Anhängerschaft bedient, und damit periodisch der Druck aus dem Dampfkessel abgelassen würde. Die Grenze des Durch- und Aushaltevermögens der venezolanischen Bevölkerung sieht Ramona im Hunger. Die rasante Verteuerung der Lebensmittel liesse die Leute von Woche zu Woche ärmer und magerer werden, sagt sie; viele ernährten sich vorwiegend von Kochbananen. Der Mindestlohn reiche gerade noch für ein Kilo Reis und 30 Eier. Damit sieht sie die soziale Explosion vor der Türe stehen; die sich häufenden Plünderungen von Lebensmitteltransportlastern und Läden im ganzen Land seien Vorboten. Sie hofft, dass die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen Änderung bringen. Sollte Präsident Maduro dennoch als Sieger hervorgehen, so setze sie ihre Hoffnung darauf, dass sich die Bevölkerung im zivilen Widerstand organisiere.

Auch Jesus Márquez, 25 Jahre, kommt aus Ejido, als Sportlehrer verdient er den Mindestlohn. Er empfindet den Zugang zu Lebensmitteln und Medikamenten als die gleichwertig dringlichsten Probleme. Jeden Vormittag und an den Wochenenden verliert er seine gesamte Freizeit damit, in stundenlangen Warteschlangen halbwegs erschwingliche Lebensmittel zu erstehen, wenn er sie denn irgendwo hat auftreiben können. Jesús gehört keiner politischen Partei an, ist aber in seiner Wut und Entrüstung über die Inkompetenz und Korruptheit der Regierung auf eigene Faust aktiv geworden und hat sich 2017 an den sogenannten Guarimbas, den Strassenblockaden, beteiligt. Er bemängelt den Konformismus der meisten seiner Landsleute, die Bittstellermentalität, die von oben über populistische, kurzfristige Almosentaktik bedient und am Leben gehalten werde, und das Fehlen einer Arbeitsethik, welche Eigeninitiative und das Erreichen von Zielen vermittels eigener Arbeit und Anstrengung befördere. All dies, und die zunehmende Angst vor der staatlichen Repression, seien Gründe dafür, wieso die meisten Leute nicht selber aktiv würden und etwas gegen die Situation unternähmen. Er findet, ein Generalstreik wäre das geeignete Mittel, die Regierung zum Abdanken zu zwingen. Das setze aber eine andere Mentalität voraus; vor allen Dingen ein Abschiednehmen vom Paternalismus. Als Beispiel dafür, dass es vereinzelt doch aktiv-militanten Widerstand geben kann, der nicht unbedingt politisch organisiert sein muss, nennt er den Fall Oscar Pérez – ein ehemaliger Kriminalpolizeibeamte der im Juni letzten Jahres einen Hubschrauberangriff auf den Obersten Gerichtshof und das Innenministerium geflogen hat – und seine kleine Gruppe von Mitstreitern, die vor wenigen Wochen in einer Kommandoaktion von Staatssicherheitskräften erschossen worden sind. Diese aussergesetzliche Hinrichtung, sagt Jesús, rangiere jedoch nicht unter dem Oberbegriff „Terrorismus“, weil vom Staat praktiziert; aber jeder Bürger, der sich in irgendeiner Form in seiner Not zur Wehr setze, werde von der Regierung als „Terrorist“ gebrandmarkt. Das sei der herrschende Doppelstandard. Ebenso wie jede kritische Meinungsäusserung gegen die Regierung unter das jüngst in Kraft getretene “Anti-Hass Gesetz” fallen und mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden könne, nicht jedoch die im Staatsfernsehen übertragenen Schimpftiraden und Drohungen von Regierungsanhängern gegen ihre politischen Gegner der Opposition. Für Jesús ist 2018 ein entscheidendes Jahr. Er wird wählen gehen, sagt er, und setzt seine ganze Hoffnung auf den – noch zu bestimmenden – Einheitskandidaten der Opposition. Sollte allerdings Maduro die Wahlen wieder gewinnen – was er wegen der Manipulationsmöglichkeiten und Hausvorteile seitens der Regierung nicht ausschliesst – hätte das für ihn persönliche Konsequenzen. Nicht in dem Sinne, dass er sich Gedanken über einen nachhaltigen, zivilen Widerstand mache, wie er sagt, sondern dass er Venezuela verlassen und anderswo versuchen müsse, ein Leben mit Zukunftsperspektiven aufzubauen.

Keiner der Befragten erwähnt die verbrauchte, diskreditierte Opposition und die fehlende politische Alternative als Faktor, der zur Resignation vieler Bürger beiträgt Die mannigfachen, voneinander isolierten Aufstände in Gestalt von Plünderungen und kollektiven Überfällen auf Lebensmitteltransporte über das ganze Land verteilt, von spontanem, unorganisiertem Charakter, die sich in der Aktion des Moments verpuffen, bleiben ohne Effekt. Was fehlt und was einer der Gründe dafür ist, dass es noch nicht zum „Generalaufstand“ gekommen ist, ist die bisher fehlende politische Dimension einer echten Alternative, die die vielen fragmentarischen Aufstände kanalisieren könnte. Das allgemeine Aufstandsmomentum, was 2016 noch durchaus vorhanden war, ist von der „Mainstream“-Oppositionsführung für einen fragwürdigen Dialog mit der Regierung geopfert worden.
Der Chavismus auf der anderen Seite, der noch vor wenigen Jahren satte Mehrheiten der Bevölkerung mobilisiert hat, hat seine einstige Attraktivität und Glaubwürdigkeit vollständig eingebüsst. Noch kann er mit fragwürdigen Methoden und dank der tatkräftigen Hilfe einer vollkommen unfähigen Opposition Wahlen gewinnen, aber auf der Strasse ist es sehr schwierig geworden, noch eine Person zu treffen, die die Regierung verteidigt. Es ist eine der Kuriositäten Venezuelas, dass ein wesentlicher, wahrscheinlich der grössere, Teil der Gesellschaft ohne politische Vertretung dasteht.
Ein weiteres Charakteristikum der venezolanischen Bevölkerung ist ihr resigniertes Durchhaltevermögen angesichts widriger Umstände. Wo andere sich längst wehren würden, gibt man sich hier „in Gottes Hand“. Aber diese Passivität kann kippen, wie es 1989 beim „Caracazo“ geschehen ist, als viele Tausende wütender Bürger*innen die Supermärkte in der Hauptstadt leerten, bis sie von der Armee zusammengeschossen wurden. Die massiven Plünderungen seit Anfang dieses Jahres, durchgeführt von ganzen Comunidades, die zum Beispiel die Autobahn sperren und Lastwagen mit Lebensmitteln enteignen, könnten Anzeichen sein, dass es mit der Geduld allmählich vorbei ist.

Wahlsieger Chavismus? Wo sind die Alternativen?

Hintergründe des Ausgangs der Regionalwahlen in Venezuela vom Oktober 2017

Die Regierungspartei PSUV (Partido Socialista Unido de Venezuela – Sozialistische Einheitspartei Venezuela) ist aus den Regionalwahlen vom 15. Oktober als überragender und vor allem überraschender Sieger hervorgegangen. Entgegen aller Prognosen und Erwartungen gewann sie in 18 der 23 Bundesstaaten; ein wahrhaftes Wahldebakel für das Oppositionsbündnis MUD (Mesa de la Unidad Democràtica – Tisch der Demokratischen Einheit), das nur 3 Monate zuvor 7,1 Millionen Wähler*innen in einem selbstorganisierten Referendum gegen die Einsetzung der vom Präsidenten einberufenen, verfassungsgebenden Versammlung mobilisiert haben will.

Das Oppositionsbündnis hat zuletzt bei den Parlamentswahlen im Dezember 2015, bei einer Wahlbeteiligung von 74%, mit 7,7 Millionen Wähler*innenstimmen (56,3%) eine 2/3 Mehrheit gewonnen; eine klare Absage der venezolanischen Wähler*innenschaft an die Regierung Maduro, auf deren Parteienkoalition 5,6 Mio Stimmen (40,9%) entfallen waren.

Bei den Regionalwahlen vom 15.Oktober, mit einer Wahlbeteiligung von 61,03%, entfielen 5,8 Millionen Stimmen (52,69%) auf die Regierungspartei und ihre Verbündeten und 4,9 Millionen (45,16%) auf das Oppositionsbündnis.

Der Stimmenverlust der Opposition im Vergleich zu ihrem letzten grossen Wahlsieg in den Parlamentswahlen 2015 beläuft sich auf 2,8 Millionen Stimmen. Wenn man die seit nunmehr vier Jahren anhaltende Wirtschaftskrise mit ihrer extrem hohen Inflation, der Verknappung von Grundnahrungsmitteln und Medikamenten, dem Zerfall der Infrastruktur in den Bereichen Gesundheit, Elektrizität, Transport und Kommunikation, sowie die menschliche Not, die sich aus ihr ergibt, in Betracht zieht, die Präsident Maduro’s Regierung mehr als nur Sympathien gekostet hat, stellt sich die Frage, weshalb die Opposition in den Regionalwahlen so schlecht abgeschnitten hat und welches die Faktoren sind, die zur ihrer Wahlniederlage beigetragen haben.

Politik der Eindämmung

Zunächst muss bemerkt werden, dass die Regionalwahlen mit zehnmonatiger Verspätung und unvollständig durchgeführt worden sind, insofern lediglich die Gouverneur*innen der 23 Bundestaaten gewählt wurden, nicht aber die Abgeordneten der jeweiligen Länderparlamente, die sich seit den letzten Wahlen von 2012 in ihrer absoluten Mehrheit noch aus der Regierungspartei PSUV zusammensetzen.

In der Verspätung der Regionalwahlen drückt sich nur einer der vielen Aspekte einer von der Regierung seit ihrer Wahlniederlage in den Parlamentswahlen 2015 systematisch betriebenen ‚Politik der Eindämmung‘ mit allen Mitteln aus, die zum Ziel hat, das von der Opposition beherrschte Parlament vollständig zu neutralisieren, da dieses mit seiner Zweidrittelmehrheit u.a. Dekrete des Präsidenten ablehnen, Volksabstimmungen zu Gesetzesprojekten und Verfassungsreformen veranlassen, Richter am Obersten Gerichtshof sowie den Generalbundesanwalt abberufen, und die Initiative für ein Abwahlreferendum des Präsidenten einleiten kann.

Das Hauptinstrument zur Neutralisierung des Parlaments ist dabei der Oberste Gerichtshof (TSJ), dessen regierungsloyale Richter und Stellvertreter in einem Schnellverfahren und unter Missachtung gesetzlicher Vorschriften eine Woche nach Ende der Legislaturperiode, am 23. Dezember 2015, vom scheidenden, noch regierungsbeherrschten Parlament, ernannt wurden. Am 30. Dezember 2015 wurden die Mandate von vier Abgeordneten des Bundesstaates Amazonas, davon drei der Opposition, vom TSJ im Rahmen einer einstweiligen Verfügung wegen angeblichen Wahlbetrugs für ungültig erklärt. In dem nachfolgenden, monatelangen Tauziehen zwischen Parlament und TSJ verlor die Opposition ihre Zweidrittelmehrheit, nachdem der TSJ diejenigen Beschlüsse des Parlaments für nicht rechtskräftig erklärte, die unter Beteiligung der fraglichen Abgeordneten verabschiedet wurden, woraufhin diese zurücktreten mussten, wollte das Parlament funktionsfähig bleiben. Der Wahlbetrug wurde nie nachgewiesen und es fanden bis heute keine Neuwahlen in Amazonas statt, womit dieser Bundesstaat ohne parlamentarische Vertretung blieb.

Der permanente „Krieg“ gegen das Parlament mit der wiederholten Annulierung der parlamentarischen Beschlüsse gipfelte Ende März 2017 in der Usurpation seiner Kompetenzen durch den TSJ und der Aufhebung der Immunität der Parlamentarier*innen. Damit allerdings lag ein so eklatanter Verfassungsbruch vor, dass sich die inzwischen ins Ausland geflohende Generalbundesanwältin Luisa Ortega Díaz zum Einspruch genötigt sah, und somit heftige Reaktionen im In- und Ausland den Präsidenten zwangen, den TSJ zur Rücknahme dieses Urteilsspruches aufzufordern – was auch umgehend geschah, und was vom Präsidenten als „Beweis für die Unabhängigkeit der Gewalten“ in Venezuela gefeiert wurde. Fortan richtete sich der Krieg des TSJ auch gegen die Bundesanwaltschaft, umsomehr als die Generalbundesanwältin von grossen Teilen der Opposition zur neuen Leitfigur erkoren wurde.

Ein weiteres Instrument in Händen der Regierung zur Eindämmung des Parlaments und seiner Initiativen ist der Nationale Wahlrat (CNE), der nicht nur das ab Anfang Mai 2016 von der Opposition auf den Weg gebrachte Abwahlreferendum gegen den Präsidenten in einen regelrechten Hindernislauf verwandelte und es im Oktober desselben Jahres, auf Betreiben von vier Landgerichten, wegen “Unregelmässigkeiten bei der Unterschriftensammlung” auf unbestimmte Zeit zum Stillstand brachte, sondern auch die für Dezember 2016 fälligen Regional- und Kommunalwahlen willkürlich auf das Folgejahr verschob. Als diese dann im Oktober 2017 stattfanden, verhinderte der Nationale Wahlrat in den Wochen zuvor das Ersetzen von Kandidaturen, die zugunsten anderer zurückgetreten waren und veranlasste nur wenige Tage vor der Wahl die Verlegung von hunderten von Wahllokalen. Im Bundestaat Bolivar jedoch, prangert der Oppositionskandidat Andrés Velásquez, der die Wahl um 1471 Stimmen gegen den Regierungskandidaten Justo Noguera Petri verloren haben soll, einen direkten Wahlbetrug an. Er machte geltend, dass er im Besitz von Wahlunterlagen sei, die in 8 Wahllokalen aufzeigen, dass die Wahlergebnisse dort zu seinen Ungunsten vom CNE um 1829 Stimmen manipuliert worden sei. Zudem wies er darauf hin, dass er nach Angaben des CNE, bekanntgegeben noch am Wahlabend und nach 98% der ausgezählten Stimmen, einen Vorsprung von 5000 Stimmmen hatte, zwei Tage später jedoch, also erst am Mittwoch – völlig unklar, warum fur die letzten 2% der Stimmen 48 Stunden benötigt worden sind, jedoch hinten lag. Andrés Velásquez zieht hierfür politische Gründe ins Feld: “…Die Leute, die durch Geschäfte Privilegien erlangt haben, wollen diese nicht verlieren: Bergbau, Goldhandel, Benzinhandel, Koltanhandel. Die Mafias, die die Geschäfte mit Aluminium, Zement, Granit, Moniereisen kontrollieren, haben mit den Bewaffneten Streitkräften und der Regierungspartei PSUV zu tun“. 1

Warum ?

Wenn es also, ausser in dem Bundesstaat Bolivar, keinen massiven Wahlbetrug gegeben hat und das veröffentlichte Ergebnis tatsächlich im Grossen und Ganzen der Stimmung der Wähler*innen entspricht, stellt sich die Frage: Warum haben trotz der anderslautenden Umfragen im Vorfeld und den objektiv schlechten Bedingungen im Land so viele für den Chavismus und so wenige für die Opposition gewählt? Was waren die Beweggründe ?

Demotivierte Wähler*innenschaft

Die unerbittliche Eindämmung und progressive Eliminierung der Befugnisse des Parlaments seitens des TSJ und seine Reduktion auf ein deklaratives, real ohnmächtiges Organ, in Kombination mit einer fehlenden Einheitsstrategie des Oppositionsbündnisses, den Herausforderungen effektiv und konsequent zu begegnen, hat zweifelsohne zur Demotivierung wenn nicht Resignation eines grossen Teils ihrer Wähler*innenschaft beigetragen, was sich nun im Ergebnis der Regionalwahlen niederschlägt, aus welchen die Opposition mit nur fünf Gouverneur*innen hervorgegangen ist. Am 23. Oktober haben sich vier der fünf gewählten Gouverneur*innen der Opposition vor der umstrittenen, Verfassunggebenden Versammlung (Asamlbea Nacional Constituyente, ANC) eingeschworen: Ramon Guevara (Mérida), Laidy Gomez (Táchira), Alfredo Díaz (Nueva Esparta), Antonio Barreto Sira (Anzoátegui). Präsident Maduro liess verlautbaren, dass die ehemaligen Kandidaten der Regierungspartei, die in den fünf Staaten gegen die Opposition verloren haben, zu „Beschützern des Volkes“ (Protector del Pueblo) ernannt werden sollen. Die Figur der „Protektorate“ ist in der Vergangenheit erfolgreich vom Chavismus als Mechanismus eingesetzt worden, um sich über gewählte Oppositionsfunktionäre hinwegzusetzen und eine parallele Kontrollinstanz zu errichten. Ein weiterer Faktor, der im Rahmen der ‚Politik der Eindämmung‘ zur Entmutigung vieler Wähler*innen führen kann, an den ausstehenden Bürger*innenmeisterwahlen oder auch sogar den Präsidentschaftswahlen Ende 2018 teilzunehmen.

Fehler und Uneinigkeit der Oppositionsführung in Fragen der Strategie

Das Oppositionsbündnis hat auf die rasch aufeinanderfolgenden Herausforderungen ohne eine kohärente Strategie reagiert und permanent ihre Methoden geändert, die von der Erzwingung des Rücktritts von Maduro, der Anzweiflung seiner venezolanischen Staatsangehörigkeit, einer Verfassungsänderung bis hin zum Abwahlreferendum reichten, wobei letztere die einzige Methode war, die eine breite Resonanz in der Bevölkerung erzeugte.

Die von März bis Juli 2017 wieder aufgenommene Strassenbarrikaden- und Konfrontationsstrategie der Opposition, die sogenannte “Guarimba”, die ihre Anhänger*innen zum Widerstand und Durchhalten gegen die Regierung mit dem Ziel aufrief, die als illegal erachtete Wahl der Abgeordneten zur Einsetzung einer Verfassunggebenden Versammlung (ANC) (siehe Artikel 347 der Verfassung) am 30 Juli zu verhindern, ist wegen ihrer verheerenden Bilanz auf Ablehnung gestossen: über 156 Tote, hunderte von Verletzten und Verhafteten, sowie Sachschäden an öffentlicher Infrastruktur wie Transport und Kommunikation in den meisten Grossstädten.

Die “Guarimba”, führte zu monatelangen Blockaden von Strassen in grossen Teilen des Landes, nicht zum Zweck des Schutzes von anderen militanten Aktionen, sondern einzig deshalb, um die Menschen daran zu hindern, sich fortzubewegen. Betroffen von den Blockaden war im allgemeinen die arbeitende Bevölkerung, die stundenlange Fussmärsche in Kauf nehmen musste, um an ihre Arbeitsplätze oder nach Hause zu gelangen, und in den seltensten Fällen Vetreter*innen der regierenden Clique. Angriffsobjekte waren, neben der ein- oder anderen staatlichen Bank, vor allem öffentliche Massentransportmittel und Einzelhandelsläden. Auch wenn die Guarimba zumindest zu Beginn bei vielen auf Sympathie gestossen war, weil mit ihr die Hoffnung auf einen baldigen Sturz der Regierung verbunden war, wurde sie im Verlauf der Wochen selbst für ihre anfänglichen Verfechter*innen zum reinen Terror. Niemand lässt sich gerne von “einem vermummten jugendlichen Rotzlöffel” Geld abknöpfen, um zum nächsten Laden gehen zu dürfen. Die Guarimba war, weit davon entfernt, den Rücktritt Maduros zu erzwingen, ein Schuss in den eigenen Fuss. Sie wurde de facto von der Opposition organisiert und zum Teil bezahlt, doch am Ende spielte sie der Regierung Maduro in die Hände, da sie die Basis der Opposition gegen ihre eigenen Führer*innen aufbrachte. Nachdem die Wahl zur ANC nicht verhindert werden konnte; brach danach die Strassenkonfrontation abrupt ab.

Dazu kam, dass die Führung der MUD fast sämtliche möglichen politischen Fehler begangen hat, um geschwächt aus dieser Regionalwahl hervorzugehen. Unfähig, sich auf einen gemeinsamen Kurs zu einigen, begann – unbegreiflicherweise für viele Anhänger*innen und Aktivisten*innen der Opposition – die Diskussion um eine mögliche Teilnahme an den Regionalwahlen. Die einen riefen dazu auf, sich nach dem manifesten Wahlbetrug am 30 Juli bei der Wahl zur ANC, an keiner weiteren Wahl zu beteiligen, um der Regierung keine Legitimation zu geben, während andere ihre Stunde witterten und ihre Kandidat*innen zur Regionalwahl einschrieben.
Die radikalsten Parteien im Bündnis haben die Teilnahme an den Regionalwahlen abgelehnt (Vente Venezuela, zunächst auch Voluntad Popular) mit der Begründung, die Opposition legitimiere dadurch ein “diktatorisches” Regime und seine illegalen Machenschaften, nur um dann doch an denselben teilzunehmen, wie dies Voluntad Popular tat.
Indem die gleichen Politiker*innen, die über viele Monate vetreten hatten, dass der Offizialismus jeden legalen Rahmen verlasssen habe und nur noch mit Hilfe gewaltsamer Proteste beseitigt werden könne, plötzlich eine Kehrtwende machten und ihren Anhänger*innen empfohlen, den Institutionen der “Diktatur” noch einmal zu vertrauen, verloren sie die letzte Glaubwürdigkeit.
Andere haben dagegengehalten, man könne der Regierung das Feld nicht kampflos überlassen und müsse sich in allen, nämlich auch in den de facto geschaffenen, ‚paralegalen‘ Strukturen einen Spielraum verschaffen (Parteien Acción Democrática, Primero Justicia, Un Nuevo Tiempo).
Sehr viel war der Opposition sowieso nicht geblieben, nachdem sie trotz jahrelangen Kampfs gegen den Chavismus nie einen kohärenten Vorschlag machen konnten, wie das Land aus der Krise geführt werden könnte. Viele Bekannten haben uns gesagt, sie seien vollkommen enttäuscht von der Regierung Maduro, aber die Oppostionskandidaten seien ja noch viel weniger wählbar. Die MUD ist nach diesem Debakel noch geschwächter als zuvor, mit miserabler Prognose für kommenden Wahlprozesse.
Auf der anderen Seite hat der Chavismus seine ganze massive Wahlmaschine ins Feld gefahren, von der Verteilung von Lebensmittel – Kisten (CLAP) wenige Tage vor der Wahl, über die beeindruckende Logistik zur Mobilisierung seiner Anhänger*innenschaft, bis hin zur massiven Nötigung der staatlichen Angestellten und Empfänger*innen von staatlichen Hilfen, für “ihre” Partei zu wählen, wie zum Beispiel dem Zwang, ein Foto von sich in der Wahlkabine mit ausgedrucktem Stimmzettel an den zuständigen Verantwortlichen der Partei zu schicken. Ausser der nach wie vor grossen Gruppe von authentischen Unterstützer*innen des “revolutionären Prozesses” gibt es auch es eine grosse Anzahl von Menschen, die die aktuelle Misere einer Situation vorziehen, wo sie der Willkür einer politischen Clique ausgeliefert wären, die ihre Verachtung für die arbeitende Bevölkerung in der Vergangenheit immer wieder manifestiert hat. Und dazu kommt eine sehr grosse Gruppe, vielleicht die Mehrheit der Wählerschft der PSUV, die aus Angst vor Repressalien oder dem Verlust kleiner Privilegien weiter mitmachen, obwohl sie im Alltag nichts anderes tun, als gegen das verhasste Regime zu wettern. Daher vielleicht die verzerrte Wahrnehmung vor der Wahl, es gebe eigentlich nur noch Regierungsgegner*innen in Venezuela.
Von dieser tristen Realität auf ein Wiedererstarken des Basischavismus zu schliessen, wie es aus Kreisen des “real existierenden Internationalismus” jetzt tönt, ist allerdings weit hergeholt.
Es gibt keine Aufbruchstimmung in den Strassen von Venezuela, eher eine Atmosphäre dumpfer Resignation. So lange die fortschrittlichen Linken im Land es nicht schaffen, eine Alternative zum “Zweiparteiensystem des 20. Jahrhunderts” zu formulieren, die anstatt der Auswahl zwischen zwei miteinander konkurrierenden populistischen Mafias einen realistischen Weg hin zu einer funktionierenden solidarischen Wirtschaft aufzeigt, wird sich hier nicht viel ändern.
Ein zunehmender Teil der venezolanischen Bevölkerung beginnt sich inzwischen davon zu überzeugen, dass weder die Regierung noch die Opposition eine ernstzunehmende Lösung der Probleme des Landes anbieten, und sich in einem fruchtlosen Machtkampf aneinander abreiben. Die Zahl derjenigen, die sich nicht den polarisierenden Parteien zuordnen, wird inzwischen auf zwischen 25% und 40 % geschätzt.

Jenseits der vorherrschenden, politischen Polarisierung haben sich zwar seit geraumer Zeit Bewegungen und Gruppen gebildet, wie Plataforma para la Defensa de la Constitución (Plattform für die Verteidigung der Verfassung von 1999), Marea Socialista, Unidad Política Popular 89, Movimiento Político Alternativo, um nur einige zu nennen) die sich aus dem sogenannten kritischen Chavismus zusammensetzen und u.a. ehemalige Minister aus der Regierung Chávez zu ihren Sprechern zählen, die jedoch (noch) nicht im Spektrum der politischen Parteien rangieren, zum Teil aufgrund ihrer systematischen Ausgrenzung durch den Nationalen Wahlrat CNE, wie im Fall von Marea Socialista, die 2015 als Partei nicht zugelassen worden waren.
Marea Socialista ruft dazu auf, die Verfassung von 1999 und die Demokratie zu verteidigen und eine politische Alternative zu entwickeln, sowie sich für ökonomische, soziale, ökologische und kulturelle Rechte einzusetzen. Sie fordern die komplette Offenlegung und Transparenz der Auslandsschulden und aller Zahlungen und Ausgaben der öffentlichen Hand. Aber diese demokratischen und ökonomischen Kämpfe würden die Notwendigkeit erfordern, “einen neuen politischen Raum zu schaffen, eine Alternative zu konstruieren, die wieder den Kurs für den Kampf um Emanzipation aufnehme”.2
Wer auch immer diese sich neu zu formierende politische Kraft sein wird, dass sie entstehen wird, ist zwingend. In einer Situation, wo sich ein Drittel der Bevölkerung von den etablierten Parteien politisch nicht vertreten fühlt, wird sie sich ihren eigenen organisatorischen Ausdruck schaffen.

Kontakt: basuca@protonmail.com