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Die Wirtschaftskrise in Venezuela und das Massnahmenpaket Maduros: Kurskorrektur oder Kontinuität?

Als “Massnahmenpaket des Scheiterns”, so bezeichnet ‚Erdöl-Zar‘ Rafael Ramírez, ehemaliger Direktor des venezolanischen Erdölkonzerns PDVSA und Erdöl-Minister, sowie ehemaliger ständiger Vertreter Venezuelas vor den Vereinten Nationen, den von Präsident Nicolás Maduro am 17. August diesen Jahres angekündigten und seit dem 20. in Durchführung befindlichen „Plan zur Erholung der Wirtschaft“, den er als Eingeständnis Maduro’s eigener Unfähigkeit wertet, das Land rechtzeitig aus der hausgemachten Katastrophe zu steuern. Ramírez, seit 2002 im Kabinett des 2013 verstorbenen Präsidenten Chávez und einer seiner engsten Mitstreiter, stand von 2004 bis 2014 dem PDVSA Konzern vor – der zentralen Schaltstelle der venezolanischen Wirtschaft, die für inzwischen 96% der Deviseneinkünfte des Landes aufkommt. Unter seiner Amtszeit fand ein Prozess der Neuverhandlung von Verträgen mit über 30 internationalen Erdölkonzernen im Rahmen einer Umstrukturierung der Erdölförderungs- und Einkommenspolitik Venezuela’s statt, welche die souveräne Verfügung über die Erdölressourcen und die direkte Finanzierung der Sozialausgaben aus Erdöleinkommen zugunsten der venezolanischen Bevölkerung garantieren sollte. Darin bestand im wesentlichen die wirtschaftliche Basis des „Bolivarianischen Sozialismus“. Nachdem er kurzzeitig unter der Regierung Maduro als Vizepräsident des Ministerrats für Wirtschaftsangelegenheiten und als Aussenminister tätig gewesen war, trat Ramírez im Januar 2015 sein Amt als ständiger Vertreter Venezuelas vor den Vereinten Nationen an, dessen er Anfang Dezember 2017 im Zusammenhang mit Korruptionsvorwürfen enthoben wurde. Inzwischen ist ein internationaler Haftbefehl gegen ihn angestrengt worden. In zahlreichen Artikeln, die Ramírez seither auf dem Nachrichtenportal Aporrea veröffentlicht hat, beteuert er, wegen seiner Kritik an Maduro’s Regierungsführung in Ungnade gefallen und Opfer einer politischen Hexenjagd geworden zu sein. Er beschuldigt die Regierung Maduro, das Erbe von Präsident Chávez verraten und dessen sozialistisch orientiertes Gesellschaftsmodell durch einen „abhängigen, wilden Kapitalismus“ ersetzt zu haben, wie ihn nicht einmal die so verpönte Vierte Republik gekannt habe. (1)

Hausgemachte Katastrophe
Venezuela erlebt die schlimmste Wirtschaftskrise seiner Geschichte. Die seit 2003 bestehende Währungskontrolle mit ihren zahlreichen, wechselnden Systemen der Zuweisung von Devisen zum Vorzugspreis an ausgesuchte Wirtschaftsakteure, und die später hinzukommende Regulierung von Nahrungsmittel- und Konsumgüterpreisen haben über lange Jahre hinweg obszöne Bereicherungsmechanismen, Schwarzhandel, Spekulations- und Mangelwirtschaft sowie ausgesprochen mafiöse Operationsstrukturen geschaffen, mittels welcher dem Land in den vergangenen 15 Jahren Werte von annähernd 500 Milliarden US Dollar entzogen worden sind und für die bis heute kaum ein Verantwortlicher zur Rechenschaft gezogen worden ist. (2)
Seit fünf aufeinanderfolgenden Jahren weist Venezuela die weltweit höchste Inflationsrate auf. Laut Daten der Wirtschaftskommission des venezolanischen Parlaments belief sich die Inflation von Mai 2017 bis Mai 2018 auf 24.571% und ist damit die höchste in einem Jahreszeitraum gemessene in der Geschichte Lateinamerikas. Seit November 2017 befindet sich das Land in einer Spirale der Hyperinflation, mit monatlichen Inflationsraten weit über 50% und seit Mai diesen Jahres über einhundert Prozent. Projektionen für die akkumulierte Jahresinflation für Ende 2018 liegen zwischen 735.583% (nach Berechnungen des venezolanischen Ökonomen Manuel Sutherland), und 1.000.000% (Prognose des IWF). Des weiteren hat Venezuela im nunmehr sechsten aufeinanderfolgenden Jahr ein zweistelliges Haushaltsdefizit, finanziert durch die Emission von inorganischem Geld durch die venezolanische Zentralbank BCV, wodurch die Inflation befeuert wird. Laut eigenen Angaben hat die BCV die Geldmenge allein im Zeitraum 2016 bis Juni 2018 um 16.347% ausgeweitet; und im weiter zurückliegenden Zeitraum zwischen 1999 und 2018 um unvorstellbare 18 Millionen Prozent. Der Schwarzmarktdollar, an dem sich die Preisbildung sämtlicher Güter in Venezuela seit Jahren ausrichtet, ist allein 2018 über 3500% in seinem Wert gestiegen.(3) Die Einkommen sind durch die Inflation in einem Masse pulverisiert worden, dass der Mindestlohn nicht einmal mehr ausreicht, um die physische Arbeitskraft zu reproduzieren. Dies ist der Grund für die Emigration vieler Venezolaner*innen in die lateinamerikanischen Nachbarländer, laut Angaben der UNO bisher 2,3 Millionen.
Die durch die Politik der Vorzugsdevisen hoch subventionierten Importe haben systematisch jeden produktiven Anreiz in Landwirtschaft und Industrie unterdrückt und zu rückläufiger Produktion und einer massiven Deindustrialisierung des Landes beigetragen. Viele Ökonomen sprechen von einer regelrechten Zerstörung des Produktionsapparates.(4) Inbegriffen in diesem düsteren Panorama ist das Rückgrat der venezolanischen Wirtschaft, der Erdölsektor, der 96% der Exporteinnahmen des Landes bestreitet und in den letzten Jahren aufgrund gefallener Weltmarktpreise für Erdöl und fehlender Investitionen einen dramatischen Produktionsrückgang von 2,31 Millionen b/d im Jahre 2015 auf 1,34 Millionen b/d im Juni diesen Jahres erfahren hat (5), womit das Produktionsniveau auf den schlechtesten Stand seit 30 Jahren gesunken ist. Nun muss Venezuela, erdölproduzierendes Land mit den weltweit grössten Reserven, Benzin importieren, weil die staatlichen Raffinerien weit unter ihrer Auslastung arbeiten und weder den nationalen Markt ausreichend bedienen, noch das extra schwere Rohöl aus dem Orinoco-Ölgürtel für den Export verarbeiten können. Es kommt immer öfter zu Verarbeitungsausfällen wegen Mangel an Lösungsmittelkomponenten, die importiert werden müssen. Der Raffinerie-Komplex Paraguaná, bestehend aus den Raffinerien Cardón und Amuay, der bei voller Auslastung 955.000 Barrel Erdöl täglich raffinieren könnte, arbeitet mit lediglich 30% seiner Kapazität. Nach Angaben der Energy Information Agency musste PDVSA im Juni diesen Jahres täglich 133.500 Barrel leichtes Erdöl und Derivate aus den USA importieren, was die ohnehin prekäre Finanzlage des Konzerns zusätzlich belastet und womit nun Erdölimporte einen ansehnlichen Anteil seiner Produktionskosten ausmachen.(6)

Staatsbankrott
Die Regierung verfügt über immer weniger Devisen. Die Erdöleinkünfte sind von 72 Milliarden Dollar im Jahre 2015 auf 28 Milliarden Dollar im Jahre 2017 zurückgegangen (7) und die internationalen Reserven haben mit weniger als 8,6 Milliarden US Dollar ihren Tiefststand in 20 Jahren erreicht.(8) Damit, und auch aufgrund der US Wirtschaftssanktionen gegen Venezuela, ist die Regierung Maduro nicht nur in Fragen Kreditaufnahme und Bedienung ihrer diversen Auslandschuldenposten eingeschränkt – die gesamte venezolanische Aussenverschuldung beläuft sich auf 154,273 Milliarden Dollar (9) – sondern ebenso was die Importe anbelangt, unter anderem, um den gravierenden Mangel elementarster Güter wie Nahrungsmittel und Medikamente im Lande zu mildern.

Die Massnahmen:
Währungs- und Steuerreform
Am 20. August trat ein Massnahmenpaket in Kraft, das mit der Korrektur verschiedener Variablen der venezolanischen Wirtschaft ihre strukturellen Verzerrungen zu bekämpfen beabsichtigt. Darunter fallen eine Lockerung der Wechselkursbeschränkungen und die Währungsreform, in deren Rahmen der Nominalwert des Geldes um fünf Nullen vermindert und über die Einführung einer Kryptowährung “Petro”, die als Verrechnungseinheit fungiert, an den Weltmarktpreis für Erdöl gebunden ist. Durch die Zueignung eines Ölfelds an die venezolanische Zentralbank soll die Verankerung der neuen Währung am Rohstoff Erdöl “materiell besiegelt” werden und entspricht einer Art Hypothek auf venezolanische Rohstoffvorkommen. Die Einführung der neuen Währung “Bolívar Soberano” (Souveräner Bolívar), kurz BsS., entsprach einer schweren Abwertung und der gleichzeitigen Anerkennung des jahrelang in Abrede gestellten Schwarzmarktdollars “Dolar Today”, indem die Regierung den aktuellen Schwarzmarktkurs zum Ausgangspunkt und Richtwert des Wechselkurses der neuen Währung nahm.
Die Verankerung des Bolívar Soberano am Erdöl bzw. “Petro” beabsichtigt formell, die Finanzierung des Haushaltsdefizits durch die Emission inorganischen Geldes zu beschränken. (Maduro hatte im Rahmen einer seiner Tiraden gegen die “kriminelle, vom Wirtschaftskrieg induzierte” Inflation zugegeben, dass die Zentralbank auf Anweisung der Regierung massiv inorganisches Geld ausgegeben hat.) Das impliziert, wenn ernst genommen, allerdings auch die Einfrierung der Löhne und die Reduzierung der Sozialausgaben. Da aber die Erdölproduktion eine stark rückläufige Tendenz aufweist und der Petro keine Vertrauensbasis geniesst, ist es fragwürdig, ob die angestrebte Nulldefizit-Politik sowohl technisch durchführbar als auch sozial verantwortbar ist. Bereits die nächste Massnahme, die Erhöhung der Löhne um das 60-fache mit dem Ziel, die Kaufkraft der arbeitenden Bevölkerung wiederherzustellen und die gleichzeitige Ankündigung der Regierung, für drei Monate allen Privatunternehmen die durch die Erhöhung entstandene Lohndifferenz zu finanzieren, ist ein eklatanter Widerspruch zur angeblich angestrebten neuen Haushaltsdisziplin, ebenso wie der “Währungsreformbonus”, der allen im System “Heimats-Ausweis” registrierten Venezolanern (10) in Gestalt eines einmaligen Betrags von 600 BsS. ausbezahlt wurde. In der Absicht, Investitionen anzuziehen und die Versorgung des Binnenmarkts mit dringend benötigten Gütern zu garantieren, begünstigt die Steuerreform venezolanische Privatimporteure und transnationale Konzerne durch einen kompletten Steuererlass (der zu Lasten der Staatseinnahmen geht), wohingegen die arbeitende Bevölkerung über die Erhöhung der Mehrwertsteuer von 12 auf 16% zur Kasse gebeten wird.

Preisbindungen
Die Preise von einigen der wichtigsten Konsumgütern, in erster Linie Grundnahrungsmitteln sind weiterhin festgelegt, jetzt allerdings auf dem ungefähren Niveau des bisherigen Schwarzmarktpreises, der oft um ein Hundertfaches über dem staatlich festgelegten Preis lag. Obwohl in der Vergangenheit auf die Einhaltung der Preisbindung keine grösseren Energien verwendet wurden, soll jetzt riguros die Einhaltung der Preise durchgesetzt werden. Mit welchem Instrument das geschehen soll, etwa der durch und durch korrupten SUNDEE, der vorgesehenen Instanz zur Preiskontrolle, die in der Regel bei ihren Kontrollbesuchen von Märkten lediglich Bestechungsgelder kassiert und die überhöhten Preise nicht beanstandet, bleibt unklar.

Benzinpreise
Angesichts der desolaten Haushaltslage hat Präsident Maduro das Ende der Subventionen für Benzinpreise und deren Angleichung an internationales Niveau angekündigt. Der Verlust, den das praktisch geschenkte Benzin den Staat jährlich kostet, beläuft sich auf Milliardenbeträge und die staatliche Erdölgesellschaft PDVSA kann vom Verkauf nicht einmal die Produktionskosten decken.(11) Ferner hat die krasse Preisdifferenz zum Nachbarland Kolumbien über Jahre hinweg den Benzinschmuggel befördert und Venezuela weitere Verluste in Milliardenhöhe bereitet. Noch ist nicht klar, wie hoch nun tatsächlich der neue Benzinpreis ausfallen soll, und für wen, alldieweil die Regierung die Subventionierung nicht aufgekündigt, sondern an die Bedingung der Einschreibung der Fahrzeugbesitzer in ein nationales Register und in das Heimats-Ausweis-System geknüpft hat, womit der angestrebten Politik der Einsparungen und der Haushaltsdisziplin eine weitere Pointe genommen wäre. (12)

Löhne und Gehälter
Der Mindestlohn wird ab dem 1. September von rund 25 BsS. Auf 1800 BsS. erhöht. Ein durchaus respektabler Anstieg. Dazu kommt noch ein Zuschlag in Form von Essensgutscheinen (die in der Regel aber in Geld ausgezahlt werden) von 180 BsS. Wichtig ist hier die Relation von Lohn zu Essensgutscheinen: Bisher betrugen die Essensmarken weit mehr als der eigentliche Lohn, während jetzt das eigentliche Einkommen ca. 91% ausmacht. Das ist wichtig, weil für die Berechnung von Abfindungen und anderen Arbeitnehmeransprüchen lediglich der Lohnanteil herangezogen wird, nicht der Essenszuschuss. Hier wurde also eine entscheidende Verzerrung korrigiert, die bis dahin Arbeitnehmerrechte eingeschränkt hatte. Zusätzlich bekommt jedeR Bürger*in im Besitz des Carnet de la Patria („Heimatsausweis“) eine einmalige Zahlung von 600 BsS., um die Umstellung auf die neuen Preise zu erleichtern.
Der neue Mindestlohn ist hoch genug, um für eine Familie mit drei Kindern zumindest die notwendigen Nahrungsmittel zu bestreiten, während das bisherige Mindesteinkommen gerade mal für ein Kilo Käse gereicht hatte. Zwei Fragen stellen sich dabei: Wird der Lohn seine Kaufkraft behalten, und wie sollen die Arbeitgeber*innen diesen gewaltigen Anstieg verkraften?
Beginnen wir mit dem zweiten. Obwohl es im allgemeinen nicht im Zentrum unseres Interesses steht, ob die Kapitalisten denn auch genügend Gewinn machen können, liegt es im Fall der rezessiven venzolanischen Wirtschaft nahe, sich zu fragen, woher denn das Geld kommen soll, das diese neuen Löhne bezahlt, und ob dieser drastische Anstieg nicht zu weiteren massiven Firmenschliessungen führen wird, da Entlassungen von Arbeitnehmer*innen derzeit gesetzlich verboten sind. Offenbar hat auch die Regierung sich diese Frage gestellt und angekündigt, während drei Monaten die komplette Zahlung aller Löhne zu übernehmen, die der privaten Firmen und selbst die der informal beschäftigten. Wenn sie das tatsächlich durchführt, woran viele zweifeln, sollte das den ersten Aufprall der drastisch gestiegenen Betriebskosten dämpfen und den Firmen Gelegenheit geben, sich auf die neue Situation einstellen. Doch das Problem ist damit nicht gelöst, nur verschoben. Nur durch brutale Preiserhöhungen werden die allermeisten Betriebe in der Lage sein, weiter mit Gewinn zu wirtschaften, und damit wird natürlich weiter an der Inflationsschraube gedreht. Diejenigen Firmen, die den Kostenanstieg nicht verkraften und pleite gehen, werden die Schere zwischen wachsender Geldmenge auf der einen Seite und dem schwindenden Angebot von Gütern und Dienstleistungen auf der anderen weiter vergrössern und auch dadurch die Inflation befeuern.
Am wahrscheinlichsten aber ist, dass nach der Gnadenfrist von drei Monaten die Inflation die Lohnerhöhungen weitgehend annuliert haben wird, so dass die Arbeitgeber*innen ihren Lohnabhängigen wiederum monatlich den Gegenwert eines Kilos Käse bezahlen werden. Und damit können sie leben.
Wer nicht davon leben kann, sind natürlich die Arbeiter*innen. Alle Prognosen deuten darauf hin, dass die neuen Massnahmen den Verfall ihrer Kaufkraft nicht aufhalten werden, sondern dass der Wertverfall der Landeswährung sogar noch beschleunigt wird. In den vier Wochen seit der Einführung der Massnahmen haben sich die Preise schon wieder verdoppelt. Schon lange leben in Venezuela arbeitende Menschen nicht mehr von ihrem Lohn, der oft gerade noch für die Fahrtkosten zum Arbeitsplatz ausreicht. Ohne die Lebensmittelpakete (CLAP) und die verschiedenen Geschäftchen ausserhalb ihrer offiziellen Arbeit wären die meisten schon verhungert. Viele verlassen ihren Arbeitsplatz, oft ohne zu kündigen, und gehen ins Ausland. Zahlreiche Stellen für qualifiziertes Personal sind mittlerweile unbesetzt.
Natürlich sind die drastischen Lohnerhöhungen seitens der Regierung gut gemeint. Es ist aber nicht zu erwarten, dass die Kaufkraft, die damit puktuell etabliert wird, lange vorhalten wird. Das wäre nur der Fall, wenn es innerhalb des Massnahmenpakets Initiativen gäbe, die die Produktion im Land erhöhen würden. Und das ist nicht der Fall, im Gegenteil. Wahrscheinlich werden die Lohnerhöhungen zu weiteren Betriebsschliessungen führen.

Der Petro
Die Stütze des neuen Währungssystems soll die „Kryptowährung Petro“ darstellen, die im Februar diesen Jahres lanciert wurde, offensichtlich als Reaktion auf das Verbot der USA, mit venezolanischen Staatsanleihen zu handeln. Der Petro soll eine Werteinheit darstellen, die über digitale Verschlüsselungsmechanismen anonym gehandelt werden kann und über das geplante Ölfeld „Ayacucho“ an der Faja Petrolera del Orinoco abgesichert sein soll: So soll jeder Petro einem der 5,3 Millonen zertifizierten Barrel Schweröl entsprechen, das in jenem bisher unerschlossenen Gebiet einmal gefördert werden soll. Der Petro soll, wie andere Kryptowährungen auch, digital „geschürft“ werden können, allerdings unter Aufsicht und nach vorhergehender Zulassung durch eine staatliche Aufsichtsbehörde (Superintendencia de los Criptoactivos de Venezuela, bisher nur existent in Form eines Twitter-Accounts). Die erste Frage, die sich stellt, ist ob der Petro tatsächlich eine Kryptowährung ist, oder nicht eher eine Krypto-Staatsanleihe. Immerhin erfüllt er eines der wesentlichen Charakteristika einer Währung nicht, nämlich Mittel zum Austausch von Gütern und Dienstleistungen zu sein. Bisher kann man den Petro nirgends ausgeben, und in der dazugehörenden Software, dem Petro-Wallet, ist eine Funktion zum Verkauf von Petros unter Dritten nicht einmal vorgesehen. Es wäre also gar nicht möglich, dass eine Person einer anderen Petros auf ihr Wallet überweist, wie bei anderen Kryptowährungen.
Warum überhaupt die Möglichkeit des Schürfens vorgesehen ist bei einer zentral verwalteten Währung, ist nicht einsichtig. Bei den gängigen Kryptowährungen erfüllt das Schürfen die Funktion, einen Anreiz für die einzelnen Nutzer*innen dafür zu schaffen, Rechnerleistung zur Verfügung zu stellen, um die Transaktionen dezentral, also ohne die Notwendigkeit des Rechenzentrums einer Bank, abwickeln zu können. Wozu wird beim Petro geschürft, wenn er doch gegen eine Zahlung von 60 Dollar zentral ausgegeben werden soll?
Die nächste Frage ist, ob es sich beim Petro wenigstens um eine funktionale Krypto-Staatsanleihe handelt. Einsichtig ist ja, dass die Besitzer*innen anonym bleiben, um Sanktionen dürch die US-Verwaltung zu umgehen. Sinnvoll scheint auch, die Anleihe an einen konkreten Wert zu binden, nämlich ungefördertes Schweröl, der die Sicherheit geben soll, dass die Anleihe irgendwann auch zurückgezahlt werden kann. Allerdings fehlt dem Petro ein wichtiger Anreiz, den konventionelle Wertpapiere bieten, nämlich die Aussicht auf Gewinn. Üblicherweise haben Staatsanleihen eine festverzinste Laufzeit, nach deren Ablauf sie wieder gegen Geld eingetauscht werden können. Dass es sich beim Schuldner um einen Staat handelt, soll dem Papier noch eine besondere Sicherheit geben, denn Staaten verschwinden nicht so einfach. Der Petro hat weder eine Laufzeit noch ein Gewinnversprechen. Ausserdem ist es unklar, ob bei einem Wechsel der Regierung der Petro überhaupt noch eingelöst werden könnte: nach venezolanischem Recht ist der Petro nämlich illegal. Die Verfassung sieht in Artikel 318 vor, dass es nur eine offizielle Währung gibt, nämlich den Bolivar. Und Artikel 12 verbietet ausdrücklich, die Erdölreserven des Landes in Garantie zu geben. Ob also eine Nachfolgeregierung den Wert des Petros anerkennen würde, ist fraglich. Fraglich ist damit auch der Wert dieses Instruments als Beschaffer von Devisen für den Staat.
Möglicherweise ist sein Sinn eher im internationalen Kontext zu sehen, nämlich zur Umgehung des Dollars als Reservewährung und als Teil der Konstruktion einer neuen weltweiten Finanzstruktur. Noch wahrscheinlicher allerdings ist, dass es sich wie in vielen anderen Fällen um eine Improvistaion handelt, deren konkrete Umsetzung niemand so richtig durchdacht hat, inspiriert durch den sagenhaften Aufstieg des Bitcoins, wo unter Verwendung eines öffentlichen Gutes (Strom) ohne Arbeit aus dem Nichts Dollar generiert werden.

Sparprogramm in Gold
Eines der Probleme bei einer gallopierenden Inflation ist ja, dass es keinen Sinn macht, für schlechte Zeiten oder eine grössere Anschaffung Geld auf die Seite zu legen. Als die Leute noch etwas über hatten und nicht alles für Essen ausgaben, kauften sie deshalb üblicherweise Wertgegenstände, um sie bei Bedarf wiede zu verkaufen. Oder es wurden Dollars auf dem Schwarzmarkt gekauft. Beides generiert keine Zinsen, aber doch wenigstens den ungefähren Erhalt des Gesparten. Ein Punkt der Wirtschaftsreformen besteht deshalb im Angebot, vom Staat in der Landeswährung Goldbarren in kleinsten Ausgaben von 1,5 und 2,5 g kaufen zu können. Soweit scheint das eine gute Idee zu sein. Allerdings gibt es auch hier wieder einen entscheidenden Haken in der Umsetzung. Den Käufer*innen wird kein Gold ausgehändigt, sondern ein Blatt Papier, auf dem steht, dass sie Besitzer*innen der entsprechenden Goldmenge sind und der Staat sich verpflichtet, ihnen dieses Gold nach 90 Tagen wieder abzukaufen. Den Betrag dafür wird der Staat festsetzen, und wir dürfen getrost vermuten, dass es sich nicht um den Weltmarktpreis handeln wird, sondern dass der Wiederverkaufspreis höchstens geringfügig höher sein wird als der Kaufpreis, was sich bei der bestehenden Inflation in Verlust umsetzt. Ob es viele Interessierte für diese Goldzertifikate geben wird, ist also zweifelhaft.

Die Wirksamkeit der Massnahmen
Natürlich war es längst überfällig, etwas Ordnung in die desolate venezolanische Wirtschaft zu bringen. Gerade die Erhöhung des Benzinpreises wenigstens auf seine Produktionskosten hätte vor vielen Jahren stattfinden müssen, und es ist weder unter ökonomischen noch unter ökologischen Kriterien nachvollziehbar, warum ein Staat jährlich Milliarden Dollar für die Subventionierung von fossilem Kraftstoff ausgibt, anstatt beispielsweise für Fahrräder oder Schuhwerk. Doch wie die Preiserhöhung umgesetzt werden soll, bleibt unklar, und nach wie vor sollen ja venezolanische Fahrzeuge weiterhin fast umsonst betankt werden, nur der Schmuggel ins Ausland soll eingedämmt werden.
Die anderen Massnahmen stellen keine wirkliche Neuerung dar. Die Währungskontrolle wird beibehalten, nur dass der Staat selbst jetzt keine Devisen mehr anbietet, was er in den letzten fünf Jahren sowieso kaum noch gemacht hat. Dafür sollen jetzt Privatleute untereinander ihre Dollars in Bolivar tauschen, zu einem Kurs, den die Regierung festlegt, und der schon nach wenigen Wochen nach der Einführung des neuen Regelwerks fast die Hälfte des Schwarzmarktkurses ausmacht. Hier wird also nicht viel passieren.
Auch die Preisbindungen werden beibehalten, wenn auch auf einem wesentlich höheren Niveau. Ohne eine wirksame Bürokratie, die die Preise auch durchsetzen kann, bleibt das aber Wunschdenken, und wirkt eher als Produktionsbremse. Wer keine Lust hat, zum festgelegten Preis zu verkaufen, verkauft auf den vielen unregulierten Märkten und besticht zur Not von Zeit zu Zeit einen Vertreter der SUNDEE. In den Supermärkten dagegen verschwinden die preisregulierten Produkte. Es ist bemerkenswert, dass die Regierung nach so vielen Jahren immer noch auf eine nachweislich unwirksame bis kontraproduktive Massnahme setzt, ohne die Ursachen ihres bisherigen Scheiterns zu analysieren.
Alles in allem sind die Massnahmen zur Sanierung der Wirtschaft eher Propaganda als wirksame Instrumente. Man kann darüber streiten, inwieweit sich die Regierung dessen bewusst ist, oder ob sie schlicht in ihrer ureigenen Logik von Wirtschaftskrieg und imperialer Sabotage an ihren hehren Zielen gefangen ist und deshalb die Realitäten nicht erkennt. Da sie aber die Problemursachen offensichtlich nicht erkannt hat, sind von ihr auch keine nachhaltigen Lösungen zu erwarten. Die Inflation und der damit verbundene Rückgang der Kaufkraft werden durch diese MAssnahmen kaum gebremst werden.

Anmerkungen

(1) Das in Venezuela etablierte politische System bis zum Inkrafttreten durch Volksabstimmung der neuen Verfassung der Bolivarianischen Republik Venezuelas im Jahre 1999)

(2) Eine Untersuchung der politischen Organisation Marea Socialista aus dem Jahre 2014 über Kapitalflucht in Venezuela kommt zu diesem Ergebnis, und die Organisation fordert seitdem die Einberufung einer öffentlichen Untersuchungskommision zur Feststellung des genauen Ausmasses der Kapitalflucht sowie die Identifizierung und Bestrafung der Verantwortlichen. Die Finanzkommission des 2015 gewählten, mehrheitlich oppositionell besetzten und von der Regierung seiner zentralen Kompetenzen beraubten Parlaments, schätzt die Summe auf einen Betrag zwischen 350 und 400 Milliarden Dollar.

(3) Die Zahlen sind einer Veröffentlichung des venezolanischen, marxistischen Oekonomen Manuel Sutherland auf dem Nachrichtenportal Aporrea vom 1.08.2018 entnommen: Hiperinflación, industria, dinero en efectivo y salarios en Venezuela (Hyperinflation, Industrie, Bargeld und Löhne in Venezuela)

4) Berechnungen des venezolanischen Oekonomen Manuel Sutherland zufolge ist die nationale Produktion im Zeitraum 2013-2018 um 45% zurückgegangen.

(5) Nach Angaben der Organisation Erdölexportierender Länder (OPEC), zitiert in Alesssandro Di Stasio, Ingreso de PDVSA en caída: perdió más de 500 mil barriles en seis meses (Einkommen von PDVSA im Fall: um mehr als 500.000 Barrel pro Tag in 6 Monaten zurückgegangen), veröffentlicht auf dem Nachrichtenportal Efecto Cocuyo am 11. Juli 2018

(6) Die Angaben sind einem Interview des digitalen Nachrichtenportals Efecto Cocuyo mit dem Oelarbeitergewerkschafter Iván Freites vom 3. September 2018 entnommen.

(7) Nach Angaben des Oekonomen und Direktors des venezolanischen Finanzberatungsinstituts, Alejandro Grisanti, zitiert in Di Stasio, op.cit.

(8) Manuel Sutherland, op.cit.

(9) Quelle: Síntesis Financiera, zitiert in: Alejandro Grisanti, ebenda.

(10) Laut Angaben der Regierung sind es 16 Millionen eingetragene Venezolaner, Stand: April 2018. Das Sistema Carnet de la Patria (Heimatlandausweissystem) ist ein von der venezolanischen Regierung 2017 eingerichtetes Instrument zur Zuteilung von Sozialhilfe an eingetragene Empfänger, die zumindest zu Beginn dieses Mechanismus in ihrer politischen Ausrichtung mehrheitlich auf Regierungsseite standen.

(11) Der Oekonom Asdrúbal Oliveros von der Finanzberatungsfirma Ecoanalítica, beziffert den Verlust im Jahre 2017 auf 5,5 Milliarden Dollar; für 2015 habe die Benzinsubventionierung das dreifache der öffentlichen Ausgaben für Erziehung, Gesundheit und Soziales betragen.

(12) Laut Regierungsangaben hatten sich in knapp 20 Tagen nach der Ankündigung der Anhebung des Benzinpreises auf internationales Niveau bereits 3 Millionen Venezolaner in das neue Fahrzeug-register und das damit verbundene Heimatland-Ausweis System eingetragen. Die wenigsten Fahrzeugbesitzer könnten es sich wohl leisten, bei einem angenommenen Durchschnittspreis von 1,2 Dollar pro Liter Benzin und einem 40 Liter-Tank, der eine Woche ausreicht, 48 Dollar (oder 4600 Bolívares Soberanos) pro Tankfüllung zu bezahlen, in einem Land in dem der Mindestlohn (nach der Währungsreform) bei 30 Dollar monatlich liegt.