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Interview mit dem Naturheilarzt Dr. Ramón Rosales Duno

Geführt am 8.11.2019 im CAMIULA, Mérida.

Rosales Duno

Dr. Rosales Duno, Sie sind Internist und praktizieren seit Jahrzehnten eine alternative, präventive Naturheilkunde. Haben Sie irgendeinen Einfluß auf die öffentliche Gesundheitspolitik in Venezuela nehmen können?

RD: Nein, ich werde nicht berücksichtigt. Mir wurde nicht einmal eine Gelegenheit eingeräumt, mit dem Stadtrat oder unseren Länderparlament zu reden, geschweige denn mit dem Gesundheitsministerium.

Seit wievielen Jahren bewegen Sie sich nun im Bereich der Naturmedizin?

RD: Seit neunundvierzig Jahren.

Sie hatten zunächst eine Ausbildung im Sinne der klassischen Schulmedizin?

RD: Ja, das ist richtig. Klassisch im Sinne der westlichen Schulmedizin. Aber ich hatte bereits vor vielen Jahren eine Vorahnung, daß wir nicht in der Lage sein würden, die Kosten dessen zu tragen, was ich die „Medizin der Krankheit“ nenne. Ich habe sämtliche Bereiche der Krankenhausbetreuung seit den Anfängen der Krankenhäuser hier im Bundesstaat Mérida durchlaufen; ich war Direktor des gößten Krankenhauses im Westen des Landes, und ich sagte mir: „Ich erlaube es, daß die Menschen erkranken, weil sie schlechte Gewohnheiten haben, und dann erhebe ich mich über sie und behaupte, dass ich sie heilen könne.“ Soll heißen, ich ließ zu, daß die Leute erkrankten, um ihnen anschliessend das von mir sogenannte MAU-Paket zu verschreiben: Medikamente, Apparate, Untersuchungen, und damit die für die moderne Medizin so typische Abhängigkeit zu verstärken. Ich habe eine Art Voraussage des Desasters gemacht, das wir hier gegenwärtig haben, dieses Durcheinanders, dieses völligen Zusammenbruchs. Das hier ist ein totaler Zusammenbruch, aus dem es sehr schwierig werden wird, sich wieder zu erheben! Es sei denn es gelingt uns, dieses ganze, schon fast machiavellihaft entworfene System, was Leuten erlaubt zu erkanken, damit sie in das Geschäft mit der Krankheit fallen, zu umgehen. Im Grunde war ich nie mit diesem System einverstanden. Die Hospitäler fordern ein stets wachsendes Budget und niemals ist es ausreichend! Und heutzutage können Sie ein Budget größer als das des Staatshaushalts haben, und trotzdem gibt es keine Medikamente! In der Vergangenheit war ich zehn Jahre lang Koordinator einer Notaufnahme und niemals hat eine Ampulle, eine Spritze, ein Medikament oder irgendein Zubehör gefehlt. Ich frage mich daher, wieso, wenn es uns zehn Jahre lang an nichts in der Notaufnahme gefehlt hat, heute die Patienten absolut alles selber besorgen und bezahlen müssen?

Was meinen Sie, was der Grund für die Verknappung bzw. das gänzliche Fehlen von Medikamenten und ärztlichem Zubehör ist?

RD: Es gibt eine Gruppe Leute – Ärzte, Apotheker, Krankenpflegepersonal – die aus der Knappheit und den Bedürfnissen Profit schlagen. So wird den Patienten zum Beispiel mehr verschrieben und zum Kauf anbefohlen, als diese tatsächlich benötigen, und der behandelnde Arzt bewahrt die überschüssigen Medikamente zum späteren Weiterverkauf auf. Das Gesundheitssystem hat sich von einer Hilfeleistungseinrichtung in ein persönliches Bereicherungs- und Subsistenzmittel für eine Gruppe von Leuten verwandelt, die sich der Zerstörung unserer Krankenhäuser widmen und Medikamente sowie ärztliches Zubehör zu Aufpreisen an verzweifelte Kranke verkaufen. In anderen Worten: Diese Leute haben die Bedingungen geschaffen, daß die Kranken genau von dem abhängen, was jene aus dem Hospital gestohlen haben! Bedauerlicherweise handelt es sich hier um ein politisches Thema. Seitdem die Politik ihre Finger mit im Spiel hat, sind nicht nur das Gesundheitswesen, sondern auch unser Erziehungswesen einem schnellen Verfall erlegen, und alles ist zusammengebrochen. Schon heute, aufgrund der Devisenknappheit, haben wir keine Möglichkeit mehr, jemals die Dinge zu kaufen, die wir dringend benötigen. Schlimmer noch, uns wurden medizinische Apparate mit eingebautem Verschleiß verkauft, sodaß in regelmäßigen Abständen Ersatzteile gekauft oder die Apparate komplett ausgewechselt werden müssen. Das hat enorme, dauernd ansteigende Kosten verursacht, weil es eben ein Geschäft ist. Das MAU-Geschäft, wie ich eingangs erwähnte. In anderen Worten, wir sind in das Geschäft mit der Krankheit verstrickt worden, wir hängen davon ab und der Arzt hat im wesentlichen die Funktion, dieses Geschäft vermittels der Verschreibung von möglichst vielen Medikamenten und der Anordnung möglichst vieler medizinischen Untersuchungen aufrechtzuerhalten.

Gibt es hier keine alternative Medizin in größerem Umfang mit einer etwas integraleren, humaneren Sichtweise?

RD: Nein. In Venezuela wurde nie eine Gesundheitspolitik entwickelt, die zum Beispiel einen Kommunal-Apotheker in Betracht gezogen hätte, der die Gemeinden mit medizinischen Kräutern aus ihrer eigenen Umgebung begleitend unterstützen und unterrichten könnte, wie man zum Beispiel Getränke, Tees, Tinkturen und Umschläge aus Heilkräutern herstellt. Damit könnte man schon einiges bewirken. Es gab und gibt diesbezüglich auch heute noch keinerlei Beratung. Unsere Pharmazeuten hier sitzen in luxuriösen Büros oder in Privatkliniken und verrichten die Arbeit von Geldverwaltern. Sie bestimmen die Preise der Medikamente auf der Basis ihrer Ankaufskosten zuzüglich eines satten Aufschlags, was dann den Endpreis ergibt, den der Patient bezahlen muss. Es gibt keinen wirklichen Kommunalarzt oder -Apotheker, an den Sie sich notfalls auch um drei Uhr morgens wenden können, wenn Sie ein Gesundheitsproblem haben oder Erste Hilfe benötigen und auf dem Land wohnen. Das war der Grund, weshalb die Revolution Ärzte aus Kuba einführen musste, damit diese die Leute auf dem Land oder in den Randgebieten betreuen konnten. Die Leute starben schmerzvoll an ihren Leiden, weil es weit und breit keinen Arzt gab! Stellen Sie sich das einmal vor! Und das änderte sich erst mit der Präsenz der kubanischen Ärzte. Für mich war es immer unvorstellbar, daß ein Krankenhaus, eine ambulante Behandlungsstation oder ein Gesundheitszentrum nicht 24 Stunden am Tag geöffnet sein sollte! Aber all das war ein politisches Problem, eine Frage der Gesundheitspolitik. Die auszubildenden Ärzte zum Beispiel, die die Verpflichtung hatten, zwei Praxisjahre in den entlegendsten Regionen auf dem Land zu absolvieren, machten diese in der Stadt und überließen die kranke Landbevölkerung, die Kleinkinder und alten, gebrechlichen Leute dort ihrem Schicksal. Also das hat mich so getroffen, daß ich Konsequenzen zog. Ich habe doch nicht aus Witz studiert, ich habe doch nicht Medizin studiert, um es mir einfach zu machen und das Geld zu kassieren! Ich habe doch eine Berufung um zu helfen, um nützlich zu sein, um die Kranken in ihrem Schmerz zu begleiten und ihnen zu ermöglichen, ihr Gesundheitsproblem zu lösen. Aber nicht in dem Sinne, ihnen Medikamente zu verschreiben. Medikamente heute sind teurer denn je und nur die wenigsten können sie kaufen. Und da können Sie doch nicht einen Arzt ausbilden, der dieser Wirklichkeit gegenüber gleichgültig und nicht in der Lage ist, den engen Begriffsrahmen der klassischen, westlichen Schulmedizin zu verlassen! Was wir brauchen, sind Ärzte mit einer doppelten Bildung – klassische Schulmedizin und Naturheilkunde. Soll heissen, wenn wir uns in einer Situation befinden, wo Medikamente knapp sind oder wo es keine gibt, können wir den Patienten mit Kompetenz eine alternative, natürliche Heiltherapie anbieten. Aber nein, die Mehrheit der Ärzte hier sitzt mit verschränkten Armen herum wenn sie keine medizinischen Untersuchungen anordnen oder Medikamente verschreiben können, weil sie keine Ahnung von Naturheilkunde haben.

Und wie kommt es, Dr. Rosales Duno, daß Sie Kenntnis der Naturheilkunde haben?

RD: Von den neunundvierzig, fast fünfzig Jahren, die ich nun Arzt bin, habe ich vierzig dem Studium der Naturheilkunde gewidmet. Ich begann zu untersuchen, wie die Generationen vor uns – unsere Eltern, Großeltern, Urgroßeltern – ihre Krankheiten geheilt haben. Die Apotheke unserer Urgroßeltern war der Kräuterkorb oder die Sträucher im Garten. Vieleicht wussten sie nicht einmal immer, weshalb sie dies oder jenes Heilkraut benutzten und welche Funktion genau es hatte. Sie setzten die Hausmittel so ein, wie es ihnen ihre Eltern, Großeltern usw. beigebracht hatten. Und wissen Sie was? Sie wurden neunzig, hundert Jahre alt, oft ohne nenneswerte Krankheiten. Sie arbeiteten hart, trugen schwere Lasten, hatten ein nach unseren heutigen Maßstäben bemessenes karges Leben, und dennoch wurden sie fast nie krank. Heute kennt kaum einer von uns jemanden, der hundert Jahre alt geworden ist. Die meisten von unseren Generationen sterben viel früher. Wir haben heute viel umfassendere Einrichtungen, wir haben Krankenhäuser, Kliniken, ambulante Behandlungsstationen, Ärzte, Apotheker, Krankenpflegepersonal, unsere moderne Medizin, aber wir werden nicht alt! Etwas läuft grundsätzlich schief und daher kann ich das Ganze nicht befürworten. Deshalb habe ich mich der Naturheilkunde zugewandt und auch ein Bildungsprogramm namens „Erziehung zur Gesundheit“ oder zum Leben, wenn Sie so wollen, entworfen. Vielleicht ist es das einzige Programm dieser Art, aber hier wird es bedauerlicherweise nicht zur Kenntnis genommen. Dieses Programm zeigt einen Ausweg aus dem perversen Geschäft mit der Krankheit auf. Was ich anstrebe ist die Erziehung zur Gesundheit, die Lebensmedizin. Ich möchte bewirken, daß jeder weiß, wo er oder sie steht, wohin sein oder ihr Gesundheitszustand tendiert, damit entsprechende Vorkehrungen getroffen und Krankheiten vermieden werden können. Darum geht es. Zu wissen, wie man/frau sich schützt. Es gibt vier wichtige Bereiche, die uns als Menschen konstituieren, und die wir pflegen müssen. Zum einen, unser Gehirn, zweitens, unser Körper, drittens, unsere Emotionen und viertens, unsere Spiritualität. Letztere ist aber nicht im religiösen Sinne zu verstehen. Es geht um unsere innere Schönheit, um unsere Lebensenergie, die wir anderen mitteilen und die wir mit anderen teilen. Darunter fällt auch unsere Bereitschaft zu helfen, solidarisch untereinander zu sein, Empathievermögen zu haben. Schauen Sie, ich habe folgende Prämisse: Je mehr ich anderen helfe, desto mehr helfe ich mir selbst. Warum? Weil ich mich motiviere, weil ich mit meinen 75 Jahren jeden Morgen mit Energie und Freude aufstehe, Gymnastik mache und dann zu Fuß den steilen Berg hoch in die Stadt zu meiner Beratungsstelle wandere. Ich helfe, und es macht mir Freude. Ich vermeide Negativität, ich versuche, mich nicht von schlechten Nachrichten oder einer schlechten Stimmung meiner Mitmenschen in meiner positiven Grundhaltung dem Leben gegenüber beeinflussen zu lassen. Wir gewinnen zum Beispiel nichts, wenn wir schlecht gelaunt sind oder gar jemanden hassen, im Gegenteil: Es schmälert unsere Gesundheit, von der unsere Emotionen ein integraler Bestandteil sind.

Wie fällt Ihre Diagnose des heutigen Gesundheitswesens in Venezuela aus?

RD: Es gibt eine ganze Reihe verheerender Variablen, die an der Zerstörung unseres Gesundheitswesens schuld sind. In Zeiten des Erdölbooms zum Beispiel wurden hier medizinische Geräte wie Computertomographen oder Magnetresonanzgeräte importiert, wie Sie sie in den besten Hospitälern Europas kaum finden. Aber unsere Politiker, die das bestimmen, haben keinen blassen Schimmer von einem integralen Gesundheitsbegriff. Sie glauben, daß man mit den Devisen aus dem Erdölexport, wenn die Preise hoch sind, alles kaufen muß, egal was es kostet und egal, wie schlecht beraten man damit ist. Denn die Technologie ist nicht unsere. Viele Apparate, die importiert worden sind, haben die Deutschen hergestellt, Siemens zum Beispiel. Aber nun kommen wir nicht an die Ersatzteile heran, wegen der Sanktionen. Und wir haben auch keine Wartungsverträge, dergestalt, dass unsere Geräte von ausländischen Technikern gewartet und falls nötig repariert würden, was jetzt auch ohnehin wegen der Sanktionen nicht möglich wäre. In anderen Worten: Unsere für teures Geld importierten, medizinischen Spitzentechnologiegeräte sind praktisch Wegwerfgeräte! Dazu gesellt sich noch die Sabotage seitens derjenigen, die in unserem Gesundheitswesen dank ihrer Kontakte zur regierenden Partei beschäftigt sind, aber keine Berufung und manchmal nicht einmal die nötige Qualifikation haben. Das sind dann die Leute, die die Apparate aufgrund ihrer Inkompetenz oder absichtlich beschädigen, um die noch intakten Einzelteile als Ersatzteile an andere Hospitäler oder Privatkliniken weiterzuverkaufen. Ebenso verfahren sie mit der medizinischen Grundausrüstung und den Medikamenten, weshalb die Privatkliniken auch meistens noch funktionieren. Aber unsere öfentlichen Krankenhäuser sind alle am Boden: Kaputte Apparate, fehlende Grundausrüstung, keine Medikamente. Was blüht und gedeiht ist der Schwarzhandel mit dem Diebesgut. Es sind ungeheuerliche Dinge ans Licht gekommen! So wurden zum Beispiel doppelte Böden mit reichlichem Stauraum in Hospitälern entdeckt, in denen tausende von Medikamenten aufbewahrt wurden, bereit zum Transport nach Kolumbien. Man kann schon von mafiaähnlichen Strukturen sprechen, die sich in unserem Gesundheitswesen eingenistet haben. Sogar die Krankenhausverpflegung wird zum Teil geraubt – abtransportiert in Schmutzwäschewagen und auf der Strasse zu Überpreisen weiterverkauft. All das zu Lasten unserer Patienten, deren Not unvorstellbar ist!

Was schlagen Sie vor, was gegen diese schreckliche Situation unternommen werden sollte?

RD: Sehen Sie, das gegenwärtige Desaster wird von der Tatsache begleitet bzw. verstärkt, daß es zu keinem Zeitpunkt eine Unterstützung für die Naturheilkunde gegeben hat. Sie hätte eine genauso gewichtige Stellung im Gesundheitswesen einnehmen müssen, wie die klassische Schulmedizin. Ich habe nichts gegen die klassische Schulmedizin oder Allopathie, und nichts gegen Untersuchungen und die Verschreibung von Medikamenten, wenn es wirklich nötig ist und nichts anderes mehr hilft. Aber Du liebe Zeit! Wenn wir so eine Situation vorliegen haben und kaum jemand mehr die Kosten für eine klassische Behandlung aufbringen kann, da müssen wir doch eine Alternative anbieten können! Und diese Alternative ist die Naturheilkunde. Die Lösung liegt auf der Hand, nämlich in der Naturmedizin, in einer gesunden Ernährung und in der Vorbeugung, in der Erziehung, fast Aufklärung hin zu einem gesunden Leben und einer lebendigen Gesundheit.

Können Sie das noch kurz etwas ausführen?

RD: Die Erziehung zu einem gesunden Leben geht Hand in Hand mit einem gut informierten Leben, mit Wissen und Bewußtsein. Wir müssen wissen, daß wir sind, was wir essen. Und wir müssen zu der Einsicht kommen, daß unsere Nahrung unsere Medizin, und unsere Medizin unsere Nahrung sein sollte, nach einer alten Weisheit von Hippokrates, dem Vater der modernen Medizin. Das lässt sich meines Erachtens nur dann erreichen, wenn keine Verbote auferlegt werden. Ich verbiete meinen Patienten nichts; ich erkläre ihnen nur die Wirkungsweise der jeweiligen Nahrungsmittel auf ihren Organismus, damit sie es selber in die Hand nehmen können, etwas an ihrer Ernährung zu ändern, wenn sie wirklich möchten. Und jeder, der sich darauf einlässt, kann das Resultat empirisch an sich selber feststellen. Drei wesentliche Komponenten eines gesunden Lebens sind Bewegung, eine liebevolle, emotionale Grundeinstellung und eine weitestgehend natürliche Ernährung. Bewegen Sie sich täglich soviel Sie irgend können zu Fuß, ohne Ausrede, ohne Bequemlichkeit. Seien Sie liebevoll! Wenn ich liebe, wenn ich keine Haßgefühle kenne oder in mir trage, bin ich stets bereit anderen zu helfen und pflege meine Menschlichkeit. Und schließlich, ernähren Sie sich so natürlich wie möglich – Obst, Gemüse, Blattgemüse, Hülsenfrüchte, Körner, Samen, Nüsse und Fisch, und vermeiden Sie abgepackte, industriell hergestellte Nahrungsmittel. Wenn Sie sich darüberhinaus zumindest ein Mal im Jahr einem generellen Gesundheitsexamen unterziehen, wissen Sie, wohin Ihre Gesundheit tendiert und Sie können sich entsprechend schützen. Das ist, was die Leute wissen müssen und ich versuche, sie in meinen Vorträgen zum eigenen Nachforschen und zur Selbsthilfe zu motivieren. Ein kleines Beispiel aus meiner Praxis: Ich habe Personen behandelt, die jahrzehntelang Medikamente gegen Bluthochdruck eingenommen haben und binnen zwei Wochen konnten sie ihre Medikamente absetzen. Ich ersetze sie mit Knoblauch, Tomate, Cayennepfeffer, verschiedenerlei Samen, die natürlich auch kontinuierlich eingenommen werden müssen, aber keine Nebenwirkungen erzeugen und die Abhängigkeit von der Pharmaindustrie durchbrechen. Von zehn Personen, die Medikamente gegen Bluthochdruck einnehmen, tun dies neun ohne tatsächliche Notwendigkeit! Können Sie sich das Ausmaß des unnötigen, täglichen, weltweiten Medikamentenkonsums wegen Bluthochdruck vorstellen? Das ist unfaßbar! Oder um ein anderes Beispiel zu nennen, meine Krebspatienten. Ich habe erfolgreiche Behandlungen mit Natriumhydrogenkarbonat und einer Umstellung auf basische Ernährung durchgeführt, denn unsere Körper sind für gewöhnlich völlig übersäuert, da wir überwiegend Nahrungsmittel zu uns nehmen, die sauer verstoffwechselt werden. Wir essen kein Obst, wir essen keine Zitrusfrüchte und Krebskranken wird obendrein der Verzehr von Zitrusfrüchten verboten! Oder Körner und Hülsenfrüchte, die die besten Freunde des Darms sind. Wer Körner und Hülsenfrüchte ißt, bekommt keinen Darmkrebs. Aber den Darmkrebspatienten wird der Konsum von Körnern und Hülsenfrüchten verboten. Das ist ungeheuerlich, absurd! Das muß einfach gesagt werden, das darf man nicht verschweigen.

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Hat die Zahl der Patienten zugenommen, die Ihre Beratungsstelle aufsuchen und die Ihre Vorträge besuchen?

RD: Zweifelsohne, aufgrund der wirtschaftlichen Situation im Lande. In den Jahren des Erdölbooms waren es erheblich weniger. Aber die Venezolaner haben eine große Schwäche: Sie haben keine Ausdauer, keine Beständigkeit. Die Leute kommen zu mir und sobald sich ihr Gesundheitszustand verbessert hat, verschwinden sie. Dann fallen sie in ihre alten, normalen Lebensgewohnheiten zurück, erkranken erneut und kommen wieder. Sie bleiben nicht bei der Sache, sie sind nicht konstant. Der Grund, weshalb jetzt mehr Leute zu mir kommen, ist die Tatsache, daß sie die ihnen verschriebenen Medikamente nicht mehr kaufen können, weil sie zu teuer sind, und daß die Leute Angst haben zu sterben, wenn sie ihre Medikamente nicht nehmen können. Das geschieht also nicht aus einer informierten Kenntnis und bewußten Entscheidung heraus, sondern aus der Not, wegen der Wirtschaftskrise.

In Begriffen sozialer Klassen gesprochen, was für Leute besuchen Ihre Vorträge?

RD: Ich glaube unter meinen Zuhörern gibt es mehr Bildungsmenschen der gehobenen Mittelklasse als einfache, arbeitende Bevölkerung. Das einfache Volk hat keine Mittel um den Transport in die Stadt zu bezahlen und meine Vorträge hören zu können. Diejenigen, die auf dem Lande oder in den Randgebieten der Stadt wohnen, sind auf den öffentlichen Transport angewiesen und der ist hier miserabel, er funktioniert einfach nicht. Außerdem ist er sehr teuer. Und da der aktuelle Mindestlohn nicht einmal ausreicht, um die Transportkosten einer Person zu decken, die sich täglich in die Stadt und wieder zurück nach Hause begeben muss, ist das ein Faktor, der die Leute daran hindert, zu kommen. Deshalb bin ich ja früher mit meinem Toyota in die abgelegenen Gemeinden gefahren, um dort vor Ort meine Vorträge zu halten und die Leute zu beraten. Aber mein Fahrzeug ist vor fünf Jahren kaputt gegangen und nun bin auch ich auf den öffentlichen Transport angewiesen, den ich mir ebenfalls kaum leisten kann. Darum habe ich dann eine Art Informationsnetz über meine Programme in verschiedenen Radiosendern entworfen, damit ich auch die Leute erreiche und informieren kann, die nicht zu mir kommen können. Aber hier hat die Zahl meiner Zuhörer insgesamt zugenommen, weil auch der gehobenen Mittelklasse das Geld oft nicht mehr für eine orthodoxe, medizinische Behandlung reicht. Hier in Mérida sagen wir: Es gibt kein Übel, was nicht seine gute Seite hätte, und in diesem Sinne bringt die Krise auch Vorteile für den Gesundheitszustand der Bevölkerung: Wir bewegen uns viel mehr zu Fuß und wir essen mehr natürliche Produkte als industriell gefertigte, weil letztere so teuer geworden sind. Und wir haben angefangen, mehr auf die natürliche, alternative Medizin zurückzugreifen. Das sind Schritte hin zu einem gesünderen Leben, würde ich sagen.

Also das könnte man die positive Seite der Krise nennen?

RD: Ganz genau!

Dr. Rosales Duno, wir danken Ihnen für dieses Gespräch!

Kein Strom, kein Essen, kein Gas und kein Benzin: Décroissance in Venezuela

Die Hunger Games
Medialer Krieg ist auch nicht mehr das, was er einmal war. Wochenlang hatte die internationale Presse den Showdown zwischen dem „Tyrannen Maduro“ und dem „Befreier Guaidó“ hochgepeitscht. Es ging buchstäblich um die Errettung eines Volkes vorm Verhungern. Juan Guaidó, ein junger Abgeordneter der rechten Partei „Voluntad Popular“, der sich in einer fragwürdigen Interpretation der Verfassung und ganz offensichtlich auf Betreiben der USA zum Übergangspräsidenten ausgerufen hatte, wollte in einer grossen medialen Aktion Tonnen von Hilfsgütern ins Land bringen, gegen den Willen der Regierung, der darauf keine andere Antwort einfiel, als zu behaupten, die Versorgungslage im Land sei vorbildlich, und also die Transporte gewaltsam zu verhindern. Der ersehnte Erfolg des Spektakels wollte sich aber nicht so recht einstellen. Zwar war die Aktion für die Opposition insofern erfolgreich, als der Chavismus weltweit wieder mal als das enlarvt werden konnte, was er ist: ein Haufen entseelter Bürokraten, denen der Erhalt ihrer Macht wichtiger ist als die Hilfe für die Bevölkerung, zu deren Schutz sie doch eigentlich angetreten waren. Auch nutzten rund 60 venezolanische Sicherheitskräfte die Gelegenheit, um sich von ihren Truppen abzusetzen. Aber das eigentliche Ziel der Aktion, nämlich ein massenhaftes Überschreiten der Grenze durch Zivilisten und in der Folge ein allgemeines Überlaufen der Soldaten, das den Anfang des Endes des Chavismus einläuten sollte, fand nicht statt. Weil die ganz grossen medial verwertbaren Bilder sich partout nicht einstellen wollten, gingen ein paar übereifrige Aktivist*innen der Opposition sogar so weit, einen der Lastwagen mit Hilfsgütern anzuzünden, um die venezolanischen Truppen dieser Untat bezichtigen zu können. Nach dem Motto „irgend was bleibt immer hängen“ kolportierten Guaidó und seine internationalen Handlanger*innen sofort den Fake, ohne Rücksicht darauf, dass auf Fotos klar zu sehen war, dass der fragliche Lastwagen weit von den venezolanischen Soldaten entfernt auf kolumbianischem Boden abgefackelt wurde.
Nach dem Spektakel ist die Luft erst mal raus. Maduro ist weiterhin im Amt, und Guaidó tourt durchs Land, um seine Basis zu motivieren. Währendessen betritt ein neuer Aktor die Bühne: der „elektrische Krieg“.

„Apagón“
In den späten Nachmittagsstunden des 7. März fiel in ganz Venezuela der Strom aus. Niemand ahnte, dass dem Land der längste und verheerendste Blackout seiner Geschichte bevorstehen würde. Für 5 ewig scheinende Tage und Nächte hatten der grösste Teil der venezolanischen Bevölkerung keinen Strom, und viele auch kein Wasser wegen des Ausfalls der elektrischen Pumpsysteme. Es herrschte totale Funkstille; die Telekommunikation sowie die Übertragung in Radio und Fernsehen waren komplett ausgefallen und die wenigen, prekären Informationen über das ebenso im Dunklen liegende Zeitgeschehen und dessen möglichen Ursachen wurden praktisch von Mund zu Mund weitergegeben. Der private und öffentliche Verkehr kam fast vollständig zum Erliegen, da nur wenige Tankstellen des Landes über funktionale Notstromaggregate verfügen, und wo dies der Fall war, ging in Kürze das Benzin aus, weil die Reserven in den Depots nicht für die hunderten von Fahrzeugen ausreichten, die davor kilometerlange Schlangen bildeten. In vielen Krankenhäusern starben Patienten wegen fehlender Stromversorgung. In den Kühlschränken und Gefriertruhen verdarben die Lebensmittel; manche Geschäfte verschenkten bereits halb verdorbene Fleisch- und Milchprodukte an ihre Kunden. Die Verluste bei Produktion, Lagerung und Handel von nicht haltbaren Lebensmitteln beliefen sich auf riesige Summen. Ab dem dritten Tag des Stromausfalls musste die Regierung Maduro an zwei aufeinanderfolgenden Tagen arbeitsfreie Tage ausrufen, da das öffentliche Leben komplett zum Stillstand gekommen war. Der Ökonom Asdrubal Oliveros bezifferte den entstandenen Schaden nach vier Tagen Stromausfall auf 875 Millionen Dollar oder ein Prozent des Bruttoinlandprodukts.

Abgesehen von propagandistischen Medienauftritten, in denen als Ursache für den katastrophalen Stromausfall ein Cyberangriff bzw. „elektrischer Krieg“ der USA gegen Venezuela genannt wurde, glänzten Staatschef Maduro und sein Kabinett durch Abwesenheit, einschliesslich des Ministers für elektrische Energie, Luis Motta Dominguez, ein General der venezolanischen Nationalgarde ohne Kompetenz oder Erfahrung auf diesem Gebiet. Es gab keinerlei Kontingenzpläne der Regierung, um die Bevölkerung in der Notlage mit entsprechender Logistik zu unterstützen, und sollte es sie gegeben haben, so wurden sie nicht ausgeführt. Die Bevölkerung tappte, was die exakten Ursachen, den entstandenen Schaden an der Infrastruktur, die geschätzte Dauer und das Ausmass des Blackouts betraf, buchstäblich im Dunkeln, was Gerüchten, Angst und Unsicherheit Tür und Tor öffnete. Der bargeldlose Zahlungsverkehr, ohne den in Venezuela wegen des chronischen Bargeldmangels kaum etwas zu kaufen ist, fiel aus, da nur wenige Geschäfte über ihr privates Notstromaggregat verfügen, und das für Bankabrechnungen und – überweisungen unerlässliche Internet nicht funktionierte. Ohne Strom, Wasser, Kochgas, Transport und Kommunikation und fast ohne Einkaufsmöglichkeit – skrupellose Einzelhändler und Wucherer nutzten die Notlage, um exorbitante Preise für ihre Waren zu verlangen – schuf sich vielerorts die Wut und Ohnmacht der Menschen über Proteste und Plünderungen ein Ventil. Im heissen Bundesstaat Zulia wurde für Eiswürfelbeutel, die zur notdürftigen Kühlung von verderblichen Lebensmitteln benutzt wurden, satte zehn Dollar verlangt.

Arbeiter, Ingenieure und Techniker der nationalen Elektrizitätsgesellschaft Corpoelec haben in der Vergangenheit immer wieder vor einem bevorstehenden Zusammenbruch des elektrischen Systems in Venezela gewarnt und sind dafür diffamiert, entlassen und einige sogar inhaftiert worden, wie der am 14. Februar 2018 vom Geheimdienst SEBIN im Bundesstaat Carabobo festgenommene, im Dienst von Corpoelec arbeitende Ingenieur und Gewerkschaftsführer Elio Palacios, welcher wiederholt den kritischen Zustand der elektrischen Infrastuktur dort denunziert, vor ihrem bevorstehenden Kollaps gewarnt und als Gründe fehlende Wartung und Korruption genannt hatte.

Wegen seiner strategischen Bedeutung für die nationale Sicherheit war der Elektrizitäts-Sektor noch unter Chávez längst auf einen Notfall oder „Angriff von aussen“ vorbereitet worden, indem neue, thermoelektrische Stromerzeugungskomponenten in das Nationale Elektrizitätssystem (SEN) integriert worden waren, womit die Abhängigkeit des Grossteils des Landes von der Stromerzeugung des Guri Staudamms etwas vermindert werden sollte. Diese thermoelektrischen Stromgeneratoren sind jedoch inzwischen mehrheitlich unbrauchbar, was grösstenteils auf ihre minderwertige technische Qualität zurückzuführen ist, alldieweil sie im Zuge der Korruption ohne öffentliche Ausschreibung von ausländischen Firmen zweifelhafter Kompetenz völlig überteuert importiert worden waren. Hinzu kamen später mangelnde Wartung wegen fehlender Ersatzteile, die heimliche, schleichende Demontage der Generatoren und der Verkauf ihrer Einzelkomponenten, und sogar fehlender Treibstoff für ihren Betrieb. Bezeichnenderweise hat die Regierung Maduro keine offizielle Erklärung dafür geliefert, wieso die thermoelektrischen Anlagen, die in Engpässen oder Notfällen einzuspringen haben, nicht funktionieren. So auch auf dem Flughafen Maiquetía von Caracas, der trotz eines gewaltigen Notfallaggregats tagelang ohne Strom war.

Laut einer Untersuchung von Ingenieuren der Universidad Central de Venezuela und Technikern der Nationalen Elektrizitätsgesellschaft lag die Ursache des Stromausfalls bei einem Brand der Vegetation in der unmittelbaren Nähe des Guri Kraftwerks, der sich schon am Tag vor dem Stromausfall entzündet hatte und welcher drei Hochspannungsleitungen überhitzte. Es kam zur Überlastung bis hin zur vorübergehenden Abschaltung der Turbinen. Mehrmalige Versuche, das System wieder hochzufahren, misslangen und führten schliesslich zu einer Explosion in einer nahegelegenen Umspannstation mit weiteren, schweren Schäden.

Es ist bemerkenswert, dass ein fünf Tage und vier Nächte währender Stromausfall praktisch im ganzen Land, einschliesslich der Millionenhauptstadt, welche in den vergangenen Jahren von den schlimmsten Stromausfällen durch eine Umverteilung von Kapazitäten zu Lasten der Provinz weitgehend verschont geblieben war, nicht zur Destabilisierung der Regierung oder gar ihrem Sturz geführt hat. Ausser vereinzelten Plünderungen von Märkten blieb es im grossen und ganzen ruhig.

Am 25 März brach das das Stromnetz schon wieder zusammen, bis zur Stunde ist die Stromversorgung im Land nicht wieder völlig hergestellt. Aber dieses mal beugte die Regierung vor: praktisch jede Strassenkreuzung in den betroffenen Städten ist von Militärs besetzt. Auch wenn es auch diesmal an jeglicher Unterstützung der betroffenen Bevölkerung, etwa durch Ausgabe von Wasser und unverderblichen Lebensmitteln fehlt, scheint die Regierung wenigstens einem potenziellen Aufstand vorbeugen zu wollen.

Manipulierte Wahlen oder Bürgerkrieg?

Nachruf auf eine verpasste Chance.
Am 20 Mai finden in Venezuela Präsidentschaftswahlen statt, ohne Beteiligung der rechten Opposition und diskreditiert von der “internationalen Gemeinschaft”. Als einziger ernstzunehmender Gegner von Maduro tritt Henry Falcón an, früher selbst Chavist, bis er nach einem Streit mit Chavez wegen dessen Enteignung einiger Lagerhallen der Polar(1) die Partei verliess. Sein Programm ist diffus sozialdemokratisch, als wichtigster Punkt sticht die vorgeschlagene Einführung des Dollar als Landeswährung hervor. Die historische Vertretung der Opposition, die MUD, boykottiert bis auf wenige Ausnahmen die Wahlen, weil sie von einem zu erwartenden Wahlbetrug ausgeht und weil sie nicht durch ihre Beteiligung ein System legitimieren will, das sie als illegal einstuft. Ohne die Stimmen der rechten Opposition hat ein gemässigter Kandidat wie Falcón gegen Maduro wenig Chancen auf eine Mehrheit der Stimmen. Das Potential der MUD liegt bei etwa 30% der Wähler*innen, die den Aufruf zum Wahlboykott auch tatsächlich befolgen würden. Davon befindet sich ein wichtiger Teil zur Zeit im Ausland und ist dort sowieso nicht wahlbefähigt, weil die venezolanischen Konsulate die Einschreibung dieser Wähler*innen sabotieren. Das Potential des Chavismus liegt bei vier bis fünf Millonen sicheren Wähler*innen, dank der knapp vier Millonen staatlichen Angestellten, ökonomisch anderweitig Erpressbaren und seinen genuinen Anhänger*innen. Ausserdem gibt es eine riesige Gruppe der Bevölkerung, wohl mehr als ein Drittel der insgesamt 19 Millonen Wahlberechtigten, die sowohl vom Chavismus enttäuscht sind als auch von der historischen Opposition. Das ist das Potential, das Henry Falcón wengstens teilweise mobilisieren könnte. Für einen Wahlsieg wäre das aber wohl noch nicht ausreichend. Ein Teil der Stimmen wird ja auch auf die anderen drei Kandidaten entfallen, darunter ein Vetreter der gewerkschaftlichen Linken und der chavistischen Dissidenz. Nur wenn er auf die Stimmen der MUD zählen könnte, wäre ihm eine satte Mehrheit sicher.

Ist ein Wahlbetrug so sicher zu erwarten?
Im letzten Jahr fanden drei Wahlen statt: Die Wahl der Verfassungsgebenden Versammlung (ANC), Gouverneurswahlen und die der Bürgermeister*innen. Bei der ersten enthielt sich die Opposition vollständig, der Chavismus spielte Durchmarsch und sackte dank völlig willkürlichen und unkontrollierten Wahlmechanismen über acht Millonen Stimmen ein, das angeblich beste Ergebnis seiner Geschichte. Ein sehr offensichtlicher Wahlbetrug, den selbst die Firma Smartmatic denunzierte, die die Software für das elektronische Wahlsystem liefert. Smartmatic legte dar, dass die im System angelegten Mechanismen zur Kontrolle, die für gewöhnlich von allen beteiligten Parteien wahrgenommen werden, übergangen worden seien, und so die gleiche Person beliebig oft wählen konnte.
Die beiden folgenden Wahlen, bei denen Teile der Opposition zum Boykott aufriefen, aber andere Teile selbst Kandidat*innen aufstellten und die vorgesehenen Kontrollfunktionen wahrnahmen, wurden zwar mehrheitlich vom Chavismus gewonnen, teils wegen der massiven Manipulation und Erpressung der Wähler*innen von Seiten der Regierung, aber sicher auch dank der massiven Boykottaufrufe der Opposition. Wahlbetrug aber, also die willkürliche Änderung bereits erzielter Ergebnisse, konnte nur in wenigen Fällen nachgewiesen werden. Da, wo die Oppositionskandidaten mit einer deutlichen Mehrheit gewonnen hatten, wurden die Ergebnisse von der Regierung auch akzeptiert, wenn auch erst nach einem demütigendem Ritual, das der Legimitation der (nach allen rechtlichen Standards illegalen) ANC dienen sollte.
Für die kommenden Präsidentschaftswahlen sind ähnliche Rahmenbedingungen zu erwarten: Erpressung, Mobbing, Psychoterror, Schüren von Angst. Letztendlich bleibt die Wahl an sich aber geheim. Die Mechanismen des Chavismus zur Beeinflussung der Wahl sind in erster Linie manipulativer Natur. Das aktuelle Wahlsystem ist weder frei noch fair, doch ein offenener Wahlbetrug ist kaum zu erwarten, wenn die Opposition sich beteiligt und die Ergebnisse überwacht und verteidigt.

Was wäre, wenn besipielsweise Henry Falcón als Wahlsieger anerkannt würde?
Auch bei einer gewonnenen Wahl würde der neue Präsident nicht einfach regieren können. Die Wahlen wurden (verfassungswidrig) mit einer Übergangszeit von acht Monaten bis zur eigentlichen Amtsübergabe anberaumt. Die ANC würde die Zeit wohl nutzen, um den Präsidenten bis dahin einiger seiner wichtigen Kompetenzen zu berauben. Die Armee und andere vom Chavismus besetzten Institutionen würden den neuen Präsidenten in seiner Amtsführung blockieren. Er wäre wohl eher eine Dekorationsfigur in der Art des aktuellen Vorstands des Parlaments, als ein Inbegriff staatlicher Autorität. Trotzdem würden einige Spielräume bleiben, um Schritte in Richtung des Ausstiegs aus der derzeitigen korrupten Militärregierung einzuleiten. Venezuela ist ein Präsidialregime, der Staatschef hat viel weiter reichende Kompetenzen als in vielen anderen Staaten. Selbst wenn man ihm überall Stöcke zwischen die Beine würfe, blieben ihm sicher hier und da noch Handlungsspielräume, vor allem in den Personalentscheidungen und in der Aussenpolitik. Es ist gut möglich, dass der Chavismus die Situation nutzen würde für eine generelle Verhandlung, mit dem Inhalt: “Wir lassen dich regieren, du erlaubst uns dafür den Rückzug unserer Kader und ihrer Kapitale, und die Weiterexistenz als legale politische Organisation.”
Nun ist Falcón selbst ja alles andere als ein Vorzeigefall des sauberen Politikers. Seine bisherigen Amtsführungen als Gouverneur waren von Korruptionsvorwürfen begleitet, aus seiner intimen Beziehung zu den grossen Privatfirmen macht er kein Geheimnis. Eine frontale Opposition gegen die herrschende Gevatterwirtschaft ist von ihm sicher nicht zu erwarten. Es ist aber durchaus davon auszugehen, dass bei einem Bruch der chavistischen Machthegemonie gesellschaftliche Kräfte ins Spiel kämen, die dem neuen Präsidenten als Unterstützung dienen würden, ihn andererseits aber auch beeinflussen und kontrollieren könnten. Denn unter den Venezolaner*innen herrscht eine dermassene Frustration über die herrschenden mafiösen Strukturen, dass wohl jeder Spielraum, wo mensch sich ohne drohende staatliche Verfolgung artikulieren könnte, begierig genutzt würde. Es ist unvorhersehbar, was hier passieren könnte, wenn der bleierne Deckel, der über allen liegt, etwas gelüpft würde. Jeder Schritt aber, der der herrschenden Mafia aus Militärs und Bürokraten Macht entzieht, öffnet Spielräume für die selbstbestimmte Artikulation der Menschen, und damit Optionen für emanzipatorische Prozesse. Selbst wenn diese Öffnung unter der Regie eines käuflichen Kapitalismusvertreters wie Falcón stattfände.

Was, wenn Maduro wieder gewählt wird?
Seit Jahren mobilisiert die Opposition auf diese Präsidentschaftswahlen, nur um jetzt, kurz vor den Wahlen, einen Rückzieher zu machen. In der Praxis heisst das, dass die letzte friedliche Chance zu einem Machtwechsel vertan wird. Selbst bei einem Wahlbetrug gäbe es ja ein neues Kampffeld, über das man mobilisieren könnte. Durch eine Beteiligung hätte man bessere Möglichkeiten gehabt, die Ergebnisse zu kontrollieren, zum Beispiel durch unabhängige Prozessbeobachter*innen. Es ist auffällig, dass dieser Wahlboykott von den NATO-Ländern unterstützt oder sogar orchestriert wird. Deren Interesse an einem Fortbestand der bestehenden Verhältnisse in Venezuela ist auf den ersten Blick vielleicht nicht ganz verständlich, folgt aber durchaus rationellen Kriterien. Zum einen hat man ja nicht wirklich etwas zu verlieren: der Handel mit Venezuela läuft trotz aller anders klingenden Propaganda wie am Schnürchen. Das Erdöl fliesst wie immer, und es ist in der jetzigen Situation sogar noch viel leichter, an lukrative Geschäfte zu kommen, als wenn man es mit einem funktionierenden souveränen Nationalstaat zu tun hätte. Venezuela bettelt heute förmlich darum, dass seine Rohstoffe von transnationalen Konzernen zu Schleuderpreisen extrahiert werden. Das Land hat sich auf Jahrzehnte hypothekiert in seiner verzweifelten Suche nach Bargeld, um den maroden Laden jeweils noch ein paar Wochen weiter betreiben zu können.
Noch wichtiger aber ist der ideologische Aspekt. So lange die Regierung Maduro weiter besteht, ist sie eine kostengünstige Werbung für das, was man ja schon immer wusste: “Sozialismus funktioniert nicht!” Man wird schwerlich ein besseres Beispiel dafür finden, und noch dazu, fast ohne einen Finger dafür krumm zu machen – alle wesentlichen Aspekte für ihr Nichtfunktionieren liefert die Regierung Maduro selbst. So stellt dieses Regime also keine aktuelle Bedrohung dar für das Funktionieren des weltweiten Systems der Akkumulation. Falls es aber zu Ende gehen soll mit dem “Sozialismus” in Venezuela, dann sollte der Untergang ein absoluter sein. Keine Reste der alten Ideen von sozialer Gerechtigkeit sollen überleben. Es geht nicht darum, den Gegner zu besiegen, denn das ist er schon. Es geht darum, ihn zu vernichten. Dafür aber braucht es einen Krieg. Nur ein gewaltsames Ende des Chavismus bietet die Möglichkeit, seine sozialen und organisatorischen Grundlagen komplett auszulöschen. Eine Ablösung, die innerhalb von trotz aller Manipulationen legalen Mechanismen wie einer Wahl erzeugt würde, böte dem Chavismus die Möglichkeit, Teile seiner akkumulierten Macht zu erhalten. Das ist für den “Westen” kein akzeptables Ende. Seine Strategie ist der Bürgerkrieg und die Intervention von aussen (Reihenfolge beliebig), um alle Reste von Autonomie zu zerstören und das Land mit seinen gewaltigen Erdölreserven für die nächsten Jahrzehnte wieder seiner Kontrolle zu unterwerfen.

Was bleibt?
Diese Wahlen sind wahrscheinlich die letzte Gelegenheit, um ein Ende der Regierg Maduro’s ohne Blutvergiessen zu ermöglichen. Danach bleibt vermutlich nur noch Krieg. Die Weichen dafür sind schon gestellt, für ein Szenario syrischer Art: Ein Exilparlament, repräsentiert durch die legale Nationalversammlung, eine Staatanwaltschaft im Exil (Luisa Ortega), ein oberster Gerichtshof im Exil, alle anerkannt von den Natoländern und Allierten. In Kolumbien steht ein Heer von Söldnern bereit: Angeblich entwaffnete Paramilitärs, die für etwas Geld leicht mobilisiert werden könnten. Und die kolmbianische Farc, die eine kriegerische Auseinandersetzung in Venezuela bisher zu einer riskanten Operation gemacht hätte, ist weitgehend entwaffnet. Als Anlass könnte beispielsweise der “humanitäre Kanal” dienen, also ein militärisch durchgesetzte Lieferung von Hilfsgütern, wie sie schon verschiedentlich angeregt wurde. Wie kann man sehenden Auges solch ein Situation herbeiwünschen?
Auch als Linke müssen wir eigentlich für die Wahlen sein. Denn abgesehen davon, dass wir auf keinen Fall das vorhersehbare Blutvergiessen wollen, würde diese einzige Alternative langfristig eine neoliberale Marionettenregierung der Nato bedeuten, in der viel mehr politischer Spielraum zerstört würde als bei einer eventuellen Mitte – Regierung, die ohne die Aufforderung zum Wahlboykott grosse Chancen auf einen Wahlsieg gehabt hätte.
Das Argument, dass mit einer Beteiligung an einem manipulierten Wahlsystem das bestehende Regime anerkannt wird, ist zwar formal richtig, aber politisch vollkommen irrelevant. Vorhandene Spielräume zu nutzen, auch wenn sie von einem illegitimen System gewährt werden, ist vernünftig und ethisch vertretbar. Es geht schliesslich darum, dieses System zu ändern.
Natürlich hätten wir lieber eine ausserparlamentarische Lösung gesehen, wo die Menschen die korrupten und verantwortungslosen Politiker*innen von Chavismus und rechter Opposition zum Teufel jagen, um den den sowie fast inexistenten Staat vollends aufzulösen und durch horizontale Selbstorganistation zu ersetzen. Leider aber sind die objektiven Bedingungen, die das aktuelle Venezuela ja geradezu prädestinieren für ein solches soziales Experiment, wieder mal weit entfernt von den subjektiven Wahrnehmungen und Bedürfnissen. Von einer Aufbruchstimmung ist hier nichts zu spüren, statt Kampfgeist, Selbstbewusstsein und Organisation von unten herrscht Resignation allenthalben.
Hoffentlich liegen wir mit unserer Einschätzung daneben. Vielleicht entfalten sich in dieser Situation von Verfall und Krise doch noch ganz andere Initiativen von Selbstverwaltung, die eine solche Stärke entwickeln, dass sie die korrupten und ineffizienten Bürokraten und Militärs, die dieses Land kontrollieren, einfach fortspülen. Man darf ja noch träumen…

(1) Empresas Polar ist die grösste Privatfirma Venezuelas, die das Land im wesentlichen mit Maismehl und Bier versorgt. Traditionell mit dem Chavismus verfeindet, hat dieser sich denoch nie an die immer wieder angekündigte Verstaatlichung der Firma gewagt.