Das abgewrackte Flaggschiff der Revolution
Kurze Diagnose des venezolanischen Gesundheitswesens
Eines der zentralen Projekte des Chavismus war die kostenlose und allgemein zugängliche Gesundheitsversorgung. Nachdem jahrzentelang nur die Bessergestellten sich angemessene Gesundheitsdientse leisten konnten, brachte die „Misión Barrio Adentro“ mit ihren kubanischen Ärzten und massiven Investitionen in die Infrastruktur die medizinische Versorgung zu den Armen. Die von Chávez initiierte Verfassung von 1999 verankerte deshalb auch die Gesundheit als gesellschaftliches Grundrecht. In den Artikeln 83-85 verpflichtet sich der venezolanische Staat eine Gesundheitspolitik zu fördern, die den allgemeinen Zugang zu den gesundheitsbezogenen Dienstleistungen, eine angemessene Behandlung im Falle von Krankheit und eine nachhaltige Rehabilitation als Teil des Grundrechts auf Leben garantiert, sowie ein integrales Gesundheitswesen aufzubauen. Zu den zentralen Kriterien eines solchen gehören eine funktionale, ausreichende Infrastruktur (Krankenhäuser, Kliniken, ambulante Behandlungsstationen, Apotheken, Labore, Krankentransportwesen und Fahrzeugflotte), der ungehinderte Zugang zu effizienten Dienstleistungen, das Vorhandensein von qualifiziertem Personal in ausreichender Anzahl (Ärzte, Fachärzte, Chirurgen, Anästhesisten, Krankenpflegepersonal), die regelmäßige Datenerhebung und Veröffentlichung von Statistiken über Krankheiten, Epidemien und den allgemeinen Gesundheitszustand der Bevölkerung; sowie eine ausreichende und permanente Verfügbarkeit von Medikamenten, Impfungen und technisch-medizinischer Ausrüstung für Diagnose und Behandlung für Patienten aller Einkommensklassen.
Die anhaltende Wirtschaftskrise, seit 2017 verstärkt durch die US-Sanktionen, hat verheerende Folgen für das venezolanische Gesundheitswesen, womit das Recht auf Gesundheit nicht mehr gewährleistet werden kann. Neben dem gravierenden Medikamentenmangel und dem allgemeinen Verfall der bestehenden Infrastruktur einschließlich der technischen Geräte, stellt die Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte einen gewichtigen Faktor dar. Laut Zahlen der Organización Panamericana de la Salud vom Juli letzten Jahres sind von den 66138 Ärzten, die es 2014 in Venezuela gab, 22000 ausgewandert. Dazu kommen 6600 von insgesamt 20000 Laborwissenschaftlern (33%) und 6030 von insgesamt 24500 Krankenpflegern (24%). Die meisten von ihnen sind aus ökonomischen Gründen nach Chile, Ecuador, Spanien und die USA gegangen – den Ländern mit der höchsten Präsenz von qualifizierten, emigrierten Arbeitskräften. (1)
Laut Angaben des Medikamentenmangel-Indexes für acht venezolanische Großstädte vom Oktober 2019, erstellt von der Nichtregierungsorganisation CONVITE, belief sich der durchschnittliche Mangel an den gängigsten Medikamenten auf 58,4%. Nach Erkrankung differenziert waren es bei Diabetes 60,2%, bei Bluthochdruck 47,9%, bei akuten Atembeschwerden 76,2%, bei Durchfallerkrankungen 49,2%, bei Antidepressiva 78,9% und bei Epilepsie 78,1%, wobei die verschiedenen Städte teilweise sehr unterschiedlich von der Knappheit betroffen sind. Caracas, Barquisimeto und Mérida sind am schlechtesten versorgt. In ihrem Informationsblatt vom Oktober 2019 weist CONVITE außerdem auf eine allgemeine Verschlimmerung der Atemwegserkrankungen hin, die sich auf die zunehmende Verwendung von Brennholz als Ersatz für das ebenfalls immer knapper werdende Kochgas zurückführen liesse. (2)
Über chronisch erkrankten Patienten wie Diabetikern, Epileptikern, Patienten mit Nieren-, Herz- und Gefäßerkrankungen, von Krebs und Aids betroffenen Menschen und generell allen, die auf chirurgische Eingriffe, Organtransplantationen, Dialyse und sonstige interventionistische Verfahren angewiesen sind, hängt das Damoklesschwert. So sagt der ehemalige venezolanische Gesundheitsminister Rafael Orihuela, daß in den vergangenen vier Jahren mehr als 3000 Dialysepatienten wegen fehlendem medizinischen Zubehör gestorben sind, oder weil sie sich die Nierentransplantation in einer Privatklinik nicht leisten konnten, deren Kosten derzeit bei ca. 50000 US-Dollar liegen. (3) Die Vereinigung Ärzte für Gesundheit stellt in ihrer landesweiten Krankenhausbefragung „Encuesta Nacional de Hospitales“ (ENH) vom September 2019 mit Besorgnis fest, daß zwischen November 2018 und September 2019 85,6% der Computertomographie- und Magnetresonanzdienste in Venezuela nicht verfügbar waren. (4) In einer früheren Umfrage, die vom Bericht der UNO Menschenrechtskommission über Venezuela vom Juli 2019 zitiert wurde, stellt die ENH fest, dass zwischen November 2018 und Februar 2019 1557 Patienten wegen Mangel an medizinischem Zubehör in Krankenhäusern starben. Darüberhinaus kamen 40 Personen infolge des Mega-Stromausfalls vom März 2019 ums Leben (5), was die äußerst prekäre Situation im Zusammenhang mit dem maroden Stromversorgungsnetz verdeutlicht.
Die Regierung Maduro hat bis jetzt nicht, bzw. kontraproduktiv auf die gravierenden Probleme im Gesundheitswesen reagiert. Diejenigen Krankenhausdirektoren und Ärzte, die eine sofortige und angemessene Ausrüstung der Krankenhäuser mit Medikamenten und Zubehör fordern und sich dabei auf die in der Verfassung verankerte Fürsorgepflicht des Staates berufen, setzen sich der Gefahr der Entlassung oder anderer Vergeltungsmaßnahmen aus. So wurde der Chirurg Ronnie Villasmil Opfer einer Hausdurchsuchung seitens staatlicher Sicherheitskräfte mit der Absicht, ihn festzunehmen, nachdem er am 15. März der Abordnung der UNO Menschenrechtskommission die desolate Situation der Krankenhäuser des Bundesstaates Carabobo dargelegt hatte. (6)
Auch „schwergewichtigere“ Persönlichkeiten mußten derartige Erfahrungen machen, wie die im Januar 2017 von Präsident Maduro ernannte Gesundheitsministerin Antonieta Caporale Zamora. Unter ihrer Leitung veröffentlichte das Gesundheitsministerium erstmals wieder die seit Juli 2015 zurückgehaltenen Statistiken, aus denen ein Anstieg der Mütter- und Kleinkindersterblichkeit auf jeweils 65,79 und 30 Prozent, sowie ein dramatischer Anstieg von Malaria und anderen infektiösen Erkrankungen zu ersehen war. Caporale wurde umgehend nach Veröffentlichung der Statistiken ihres Amts enthoben. (7)
Die andere Seite der Medaille: Krise als Chance?
Selbst ist der Mensch
Venezuela ist ein Land der Mystik und der Wunderheilung. Zwar wurden hier in den goldenen Jahren des leicht gewonnenen Geldes pro Kopf mehr Medikamente konsumiert als sonstwo in Lateinamerika. Aber jetzt, wo diese Medikamente für viele unerschwinglich geworden sind, besinnen sich die Menschen wieder auf altes überliefertes Wissen über natürliche Formen der Heilung. Selbstverständlich schwimmt in diesem Sud der Überlieferung auch einiges an Aberglauben und Budenzauber mit. In einer Kultur, wo übersinnliche Wesen und religiöse Dogmen einträchtig nebeneinander leben, hat die Wissenschaft einen schweren Stand. Aber bei vielen der gängigen Methoden zur pflanzlichen Behandlung und Vorbeugung von Krankheiten ist die Wirksamkeit ja tatsächlich nachgewiesen. Und auch im Falle von Behandlungen mit Kräutern, die ausser dem nicht zu unterschätzenden Placeboeffekt keine weiteren Auswirkungen haben, sind wenigstens in den meisten Fällen keine negativen Auswirkungen zu befürchten. Es wäre schön, wenn das gleiche von den sonst inflationär konsumierten Pharmaka der „westlichen Medizin“ behauptet werden könnte.
Gesünder leben dank Armut?
Was die Mangelernährung im Land betrifft, so ist auch hier eine differenzierte Sichtweise geboten. Hunger ist schrecklich, und beim Anblick von Menschen, die sich vom Abfall anderer ernähren, dreht es uns den Magen um. Aber während der Jahre des Überflusses haben sich zumindest die Ärmeren, die hier drei Viertel der Bevölkerung ausmachen, auch sehr schlecht ernährt. Gutes Essen war assoziiert mit dem täglichen reichlichen Konsum von Masthähnchen, die mit Hilfe von Hormonen und transgenischem Soja in nur sechs Wochen auf ein Schlachtgewicht von eineinhalb Kilo aufgepumpt werden. Dazu Unmengen von Fett, Kohlenhydrathen und Zucker, während Obst und Gemüse in eher homöopathischen Dosierungen vorkamen. Bei den massiven Kampagnen in den Anfangsjahren des Chavismus zur besseren Ernährung der Bevölkerung spielte die Qualität des Essens eine untergeordnete Rolle, es ging in erster Linie um die Menge und die Erschwinglichkeit. Die staatlichen Mercals und PDVALs waren nicht nur Synonyme für fast geschenkte, sondern auch für qualitativ minderwertige Nahrung. Und das hat natürlich Auswirkungen auf die Gesundheit.
Wer vor rund zehn Jahren in Venezuela war, kann sich vielleicht noch an die erstaunliche Menge dicker Menschen, vor allem Jugendlicher, erinnern. Dieses Bild ist weitgehend verschwunden. Die Leute sind heute im Durschnitt viel dünner. Die angespannte Finanzlage in den Haushalten der arbeitenden Bevölkerung zwingt sie dazu, für das wenige Geld die grösstmögliche Menge an Nahrungsmitteln zu kaufen, ohne dabei besonders auf Nährwert und geschmackliche Präferenzen zu achten. Das führt natürlich in erster Linie zu einem erhöhten Konsum von Kohlenhydrathen. Proteine bleiben auf der Strecke, ebenso wie das zumindest in den Städten sündhaft teure Gemüse. Dafür aber werden auch kaum noch Erfrischungsgetränke und Knabberzeug konsumiert, die früher einen grossen Teil der täglichen Diät gerade bei Kindern ausmachten. Bananen, die in Venezuela überall wachsen und wegen der grossen Verfügbarkeit, den geringen Produktionskosten und der kurzen Haltbarkeit relativ billig sind, haben sich zum Hauptnahrungsmittel gemausert. Abgesehen von der epidemischen Verunreinigung der Strassen durch Bananenschalen, sicher ein positiver Aspekt.
Die CLAP – Kisten, also die von der Regierung fast verschenkten und wenigstens in Caracas sehr regelmässig gelieferten Lebensmittelpakete der Regierung, bestehen in erster Linie aus Kohlenhydrathen. In der Hauptstadt machen diese für die meisten den Hauptteil der Ernährung aus, auch weil Obst und Gemüse hier überdurchschnittlich teuer sind. Aber Venezuela ist mehr als Caracas, und im Rest des Landes treffen die CLAP wesentlich seltener ein, oft nur drei oder viermal im Jahr. Hier wird also zwangsläufig mehr Gemüse konsumiert, es ist hier schliesslich auch billiger. Bei Obst und Gemüse aber hat ein wichtiger Wandel stattgefunden, der sich positiv auf die Gesundheit der Bevölkerung auswirkt. Da fast nichts davon mehr importiert wird, und weil Pestizide und andere Agrogifte für die Landwirte kaum noch erschwinglich sind, ist das Essen viel weniger vergiftet. Nicht als Ergebnis eines bewusstseinsbildenden Prozesses, wie er zunehmend in den reichen Ländern stattfindet, sondern als erzwungenes Ergebnis der Krise.
Dass Stress krank macht, ist bekannt. Der zunehmende Verfall in fast allen Bereichen des täglichen Lebens und die scheinbare Auswegslosigkeit der Situation haben bei sehr vielen zu einer permanenten Panikstimmung geführt, besonders in den ersten Jahren der Krise. Egal, wohin man kam, war das Gesprächsthema immer das gleiche: “Hast du gesehen, was das oder das jetzt kostet?” und “Wie soll das alles enden?”, ein ständiges, verzweifeltes Wiederkäuen negativer Ideen und Beklagen vermeintlich unabänderlicher negativer Zustände. So eine Haltung ist ungesund. Statt der Ausschüttung von Glückshormonen wird der Magen sauer, und die Nerven liegen blank. Wahrscheinlich gibt es auch hierüber keine Untersuchungen, aber die Konsequenzen dieser Negativität auf die gesellschaftlichen Gesundheitsstatistiken müssen hoch sein. Man muss sich nur vorstellen, wie durchschnittliche Deutsche auf nur einen winzigen Bruchteil von all diesem Chaos reagieren würden. Die Nervenheilanstalten würden wohl kollabieren. Aber mit dem Ende der grossen Mobilisierungen seit zwei Jahren hat sich eine allgemeine Resignation eingestellt, und die verzweifelten Klagen weichen nach und nach einem abgeklärteren Sichfügen in das Unvermeidliche. Die bis jetzt noch nicht das Land verlassen haben, die haben sich mit ihrem Schicksal abgefunden und sich ihrem Gott anvertraut. Eine Haltung, die wir in dieser Radikalität bisher nur in Venezuela gesehen haben. Da kaum noch etwas funktioniert, müssen auch die Menschen immer weniger funktionieren. Es wird immer weniger und immer langsamer gearbeitet, und immer mehr rumgesessen und nichts getan. Der Stress nimmt ab, und damit der Ausstoss von Magensäure.
Der weitgehende Zusammenbruch des öffentlichen und privaten Personenverkehrs wegen Ersatzteilmangel und Benzinknappheit hat auch zu einer anderen erfreulichen Neuerung geführt: Die Menschen laufen wieder. In Venezuela war die Fortbewegung zu Fuss in der Vergangenheit verpönt. Man lief nicht, man fuhr. Besucher*innen erinnern sich sicher noch an das absurd wirkende Bild von Menschenmassen, die sich in der U-Bahn auf die Rolltreppe zu quetschen versuchten, während die Treppe daneben völlig menschenleer blieb. Das ist vorbei. Die Rolltreppen sind kaputt und man steigt Treppen, sehr zur Freude des Kreislaufs. Da für viele die Fahrtkosten zur Arbeit den gesamten Lohn ausmachen und Transportmittel immer knapper und teurer werden, sieht man zu den Stosszeiten auch immer mehr Leute laufen.
Ist Décroissance gesund?
Wir haben ein paar Aspekte des schleichenden Zusammenbruchs einer Ökonomie dargestellt und ihre möglichen Auswirkungen auf die Gesundheit. Für manche mag es zynisch erscheinen, in all der Not auch positive Aspekte zu suchen, und in vielen Fragen verbietet sich diese Sichtweise auch. Von einem wissenschaftlichen Standpunkt aus scheint es uns aber interessant zu sein, die Situation mit objektiven Augen zu betrachten, anstatt sich dem üblichen Hype anzuschliessen und in Venezuela einfach nur den Untergang eines angeblich funktionierenden Wirtschaftsmodells zu sehen, der den Menschen alles nimmt, was sie glücklich macht. Dass in den glitzernden Konsumgesellschaften des “Westens” alles besser funktioniert als im venezolanischen Chaos, bestreiten wir nicht. Aber wir würden uns sehr über eine unabhängige und nicht von ideologischen Prämissen ausgehende Untersuchung freuen, die der Frage nachgeht, wie gut oder schlecht es den Menschen hier tatsächlich geht. Die nicht nur ökonomische Kategorien untersucht, sondern fragt, was für die Gesundheit und das Wohlbefinden des Menschen tatsächlich wichtig ist. Wir können diese Untersuchung nicht leisten, weil wir die dafür notwendigen Informationen und Mittel nicht haben. Aber etwas sagt uns, dass das Ergebnis anders ausfallen könnte als das, was die Leute erwarten, die das venezolanische Debakel nur durch die kapitalistische Brille betrachten.
Brustkrebspatientin Lili : „Ich bin dankbar für die Erfahrungen, die ich während meiner Krankheit gemacht habe.“
Kannst du dich bitte vorstellen? Wer bist du, was machst du, was ist deine Krankheit?
Ich heisse Lili (Name geändert), ich bin 51 Jahre alt und arbeite an der Uni. Als ich vor einem Jahr von einer Auslandsreise zurück kam, war ich besorgt, weil ich einen Knoten zwischen Achsel und Brust spürte. Ich bin dann zu eine Spezialisten in Sachen Brustkrebs gegangen, der die entsprechenden Tests gemacht hat, Biopsie und so weiter. Schon damals brauchte ich die Hilfe einer Stiftung im Ausland, um diese Analysen machen zu lassen. Schon damals hat sowas in Venezuela sehr viel Geld gekostet. Ich musste das mit der Stiftung machen, weil ich mit meinem Lohn, selbst unter Einbeziehung des Weihnachtsgeldes, diese Biopsie nicht hätte bezahlen können.
Und deine Krankenversicherung hat das nicht übernommen?
Die Uni hat ihre eigene Gesundheitsvorsorgung. In Venezuela gibt es mehrere Optionen: Entweder über den Staat, also IVSS etc., und wir an der Uni haben auch noch das „Camiula“, und dazu noch zwei Versicherungen: eine vom Staat, und eine von der Uni selbst. Bis vor ca. einem Jahr hatten die öffentlich Angestellten und wir von der Uni dieses Privileg, dass diese Art von Dingen übernommen wurden. Im Camiula hätte ich die Tests machen lassen können, aber ich hätte dann die nötigen Materialien selbst bezahlen müssen. Es ging dabei um sehr viel Geld. Deshalb nahm ich die Unterstützung jener Stiftung an. Die Stiftung verlangte im Gegenzug, dass ich oder eine mir nahestehende Person Blut spenden solle, womit ich natürlich kein Problem hatte. Die Biopsie ergab ein positives Ergebnis. An dem Abend, als ich das erfuhr, ich war in Begleitung einer Freundin und meiner Schwester, was das ein Schock für mich. Ich habe mir dann aber gesagt, dass das zwar schlecht ausgehen kann, aber dass es auch gut verlaufen kann, und dass es ein Moment ist, wo sich mein Leben ändern muss.
Ich bin dann zu einem privaten Arzt gegangen, einem Spezialisten. Ich habe mich mit meiner Familie im Ausland in Verbindung gesetzt, die ab diesem Moment alle Kosten der zahlreichen Untersuchungen übernommen hat. Alles sehr teuer. Die Krankenversicherung der Uni hätte davon nur einen kleinen Teil übernommen.
Und gab es keine Möglichkeit, das innerhalb des öffentlichen Gesundheitssystems machen zu lassen?
Sehr schwierig. Von den zehn Untersuchungen, die ich machen musste, hätten vielleicht drei in öffentlichen Einrichtungen gemacht werden können. Eventuell vier. Aber die Warteliste von Leuten die darauf warteten war sehr lang, ich hätte vier oder sechs Wochen warten müssen, bis ich dran gekommen wäre. Aber auch in den privaten Einrichtungen, die das machen, waren seinerzeit von zehn, die das eigentlich machen können, nur zwei wirklich in der Lage, wegen den bekannten Problemen mit den Divisen. Als ich die Ergebnisse hatte, empfahlen mir die Ärzte zwei Optionen: Anwendung von Chemotherapie in einem öffentlichen Krankenhaus, oder in einer Privatklinik. Im staatlichen Krankenhaus gab es zu dem Zeitpunkt leider keine Ärtz*innen, die die Behandlung hätten machen können. Und selbst wenn es welche gegeben hätte, wäre ich in eine weitere Warteliste gekommen. Die onkologische Abteilung dort ist zwar sehr effizient, aber dort kommen sehr viel Menschen hin, auch aus den umliegenden Bundesstaaten. Wir haben deshalb beschlossen, mithilfe der finanziellen Unterstützung meiner Familie, es in einer privaten Einrichtung zu machen. Die Medikamente aber, die zur Anwendung der Chemotherapie nötig sind, wurden mir alle vom IVSS (Instituto Venezolano del Seguro Social) umsonst zur Verfügung gestellt. Glücklicherweise hatten sie für meine Art von Krebs alle nötigen Medikamente verfügbar. Gratis.
Um welche Beträge etwa hätte es sich dabei gehandelt?
Um irrwitzige Summen. Wir haben uns ja auch in Kolumbien erkundigt, unter anderem über die Sociedad Anticancerigena, die Medikamente nach Venezuela einführt, und die Summen waren horrend. Während das früher normal war, dass der Staat alle Medikamente zur Verfügung stellte, gab es ein paar Jahre, wo das nicht der Fall war, und erst seit etwa einem Jahr bekommt man im öffentlichen System wieder solche Medikamente.
Hätte es denn Alternativen zur Behandlung mit Chemotherapie gegeben?
Ja, die gab es. Ich hatte Infos über den Dr. Sirio Quintero in Boconó, der mit Hilfe der Nanotechnolgie Krebs behandelt. Und auch über Behandlung mit Naturheilmitteln. Aber ich wollte nichts riskieren. Ich habe auf die Chemo gesetzt, aber unter Zuhilfenahme der Naturmedizin. Um den negativen Effekten der Chemo entgegen zu wirken. Denn deren positiven Effekte sind zwar bekannt, aber die Nebenwirkungen oft nicht so sehr.
Du hast eine Operation erwähnt. Neben der Chemo muss also auch noch operiert werden?
Ja, in meinem Fall schon. Die Ärzte empfehlen, dass die Gegend, wo der Tumor sich befand, immer nachträglich auch untersucht werden soll. An der Stelle, wo sich mein Tumor befand, wurde eine Tätowierung gemacht, die dessen Grösse anzeigt. Er war ca. vier cm gross, jetzt ist er fast völlig verschwunden. Die Behandlung war also 100% positiv. Eineinhalb Monate nach der OP muss ich dann noch eine Radiotherapie machen. Die gesamte “akademische” Behandlung ist also positiv verlaufen. Das Problem ist, dass sekundäre Probleme auftreten können durch den psychischen Zustand, also die Angst. Ich scheine jetzt ganz normal, aber innerlich bin ich zerfressen vor Angst. Neben der eigentlichen Behandlung ist deshalb die psychologische Unterstützung sehr wichtig. Die Meditation war bei mir ausschlaggebend.
Was ist mit der Ernährung während der Behandlung? Gibt es da Veränderungen?
Ja, das empfielt sich. Ideal ist, ganz auf Zucker, Fett, Milchprodukte und raffinierte Mehle zu verzichten. Kein rotes Fleisch mehr. Keinen rohen Salat, weil die Verdauung nach der Chemo arg angeschlagen ist. Eigentlich soll ich vor allem Huhn essen.
Und diesen Wechsel in der Ernährung, konntest du den mithilfe deines Gehalts finanzieren?
Nein, nur mit Hilfe von anderen, von der Familie im Ausland. Ein Huhn kostet derzeit ca. 40000 Bs., und mein Gehalt als Verwaltungsangestelle an der Uni, also die höchste Gehaltsstufe für Angestellte, liegt bei 300000 Bs. Davon kann man das also unmöglich bezahlen. Und für den Erfolg der Behandlung ist eine gute Ernährung unerlässlich.
Gibt es noch andere Kosten, die wir noch nicht erwähnt haben?
Die alternativen Therapien, also die emotionale und psychologische Begleitung, kosten auch was. Aber einiges ist auch umsonst, also was von Freund*innen geleistet wird.
Wird dich die OP was kosten?
Die Operation als solche nicht, aber sie geben dir eine Liste mit den Sachen, die du dafür besorgen musst, also Spritzen, Anästhesie, Medikamente, etc. Aber das finde ich ok, dass die das von mir verlangen. Weisst du, das Gesundheitssystems in Venezuela war eigentlich vollständig umsonst. Früher hat das Krankenhaus bei einer OP alles kostenlos zur Verfügung gestellt. Aber seit ca. zwei, drei Jahren ist das vorbei, davor gab es schon mal das eine oder andere, was an selbst beibringen musste, aber jetzt muss man alles selbst besorgen. Also entweder braucht man sehr viele Freund*innen, die eineN unterstützen, oder so wie ich Angehörige mi Ausland.
Und die Radiotherapie?
Auch das wird meine Familie bezahlen. Das ist das teuerste der ganzen Behandlung.
Und wo wird die stattfinden?
In Caracas, Valencia oder Barquisimeto. Privat. Öffentliche Optionen für Brustkrebs gibt es nicht. Hier in Mérida geht es nicht, weil die Apparate, mit denen das gemacht wurde, kaputt sind. Sowohl im öffentlichen Krankenhaus als auch in der Privatklinik.
Wie machen sowas eigentlich Leute ohne Verwandte im Ausland?
Die Leute verkaufen alles. Goldkettchen, Auto, was es eben so gibt. Also wenn jemand gar keine Hilfe hat, dann kann ich mir gar nicht vorstellen, wie das gehen soll.
Aber zumindest ich habe vom IVSS alle Medikamente bekommen, die ich brauche, und jetzt werde ich auch im Krankenhaus umsonst operiert. Also dafür, dass wir in solch einer Krise stecken, finde ich, dass das öffentliche System eigentlich funktioniert. In meinem Fall als Onkologiepatientin funktioniert das System. In anderen Fällen, Notfällen oder ähnlichem, mag es sein, dass es schwierig ist, aber in meinem Fall funktioniert es.
Und mal abgesehen von allen ökonomischen Aspekten scheint es mir am wichtigsten zu sein, dass man emotional und psychologisch unterstützt wird. Die Liebe ist wichtig. Das ist die beste Medizin.
Endnoten
(1) Quelle: https://www.lanacion.com.py/mundo/2018/10/11/migracion-masiva-de-medicos-venezolanos-entre-2012-y-2017/ )
(2) NGO Convite, Bulletin Nr. 27 vom Oktober 2019, http://conviteac.org.ve/escasez-de-medicamentos-en-venezuela-ronda-entre-48-y-79-para-el-mes-de-octubre/ ).
(3) Quelle: https://radiofeyalegrianoticias.com/3-mil-pacientes-de-dialisis-murieron-en-los-últimos-4-anos
(4) Quelle: https://www.encuestanacionaldehospitales.com/2019(5) Bericht UNO Menschenrechtskommission über Venezuela, Juli2019)
(5) Bericht der UNO Menschenrechtskommission über Venezuela, Juli 2019
(6) Quelle: https://www.el-comercio.com/actualidad/medicos-venezolanos-denuncia-agresion-permanente.html
(7) Quelle: https://www.elnacional.com/gobierno/caporale-confirmo-remocion-min-salud_182124/ )