Dialoge für eine chavistische Überwindung der Krise – eine Antwort

Das Diskussionspapier Dialoge für eine chavistische Überwindung der Krise, im Juni 2019 als Ergebnis einiger Gruppen des Basis-Chavismus entworfen und auf deutsch von amerika21 am 13.08.2019 veröffentlicht, ist sicher ein guter und wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Die Lösung für die sich immer weiter verschärfende Krise muss von unten kommen, von der Basis, wie das die Autor*innen fordern, und nicht von einem heilbringenden neuen Führer, wie das von der breiten Mehrheit immer wieder erwartet wird.

Leider hat die Untersuchung der Ursachen des chavistischen Debakels einige entscheidende Lücken bis hin zu Fehlanalysen. Deshalb kann auch das Ergebnis nicht richtig sein – wo die Diagnostik nicht stimmt, kann die Krankheit nicht erfolgreich bekämpft werden.

 

Im Ökonomischen

Die wesentlichen Ursachen des Scheiterns der chavistischen Wirtschaft wurden nicht verstanden. Genauso wie die heute regierende Clique für sämtliche Fehler stets das „Imperium“ verantwortlich macht, wird auch hier die Schuld des Scheiterns in erster Linie bei anderen gesucht, anstatt bei sich selbst anzufangen. So wird beispielsweise der Warenschmuggel ins Ausland, der die venezolanische Wirtschaft jahrelang ausblutete, einfach den „Taktiken der Opposition“ zugerechnet. Das ist völlig falsch. Die Preisbindung von Grundnahrungsmitteln und anderen Gütern war eine der Grundpfeiler der Politik von Chávez. Das Beibehalten niedrigster Preise bei gleichzeitig zunehmender Inflation hat den Schmuggel dieser Güter ins Ausland hoch attraktiv gemacht, und der daraus folgende bachaqueo war sicherlich keine exklusive Beschäftigung der Opposition, sondern eine Art Volkssport, den in erster Linie die untersten (grösstenteils chavistischen) Schichten und korrupte Regierungsbeamte oder Militärs betrieben. Da diese Billigpreispolitik den Anbau oder die Herstellung dieser Güter immer unattraktiver machte, hat sie ausserdem zur Einstellung der heimischen Produktion in diesen Bereichen geführt und den immer massiveren Import mit staatlichen Zuschüssen befördert, was wiederum die Korruption befeuert hat. Am Beispiel Kaffee: Um den Kaufpreis für die Konsument*innen niedrig zu halten, wurde den Produzent*innen ein so niedriger Grosshandelspreis aufgedrückt, der oft nicht einmal die Kosten deckte, dass die vormals grosse heimische Produktion völlig zum erliegen kam. Gleichzeitig wurde zu internationalen Preisen, die ein Vielfaches dessen betrugen, was die venezolanischen Produzent*innen verlangen durften, Kaffee beispielsweise aus Vietnam importiert, um den heimischen Konsum zu befriedigen.

Ein weiteres Beispiel des Nichtverstehens der Gründe des Scheiterns der chavistischen Wirtschaftspolitik ist das Idealisieren der verstaatlichten Produktionsanlagen. Natürlich ist es wünschenswert, wenn Fabriken enteignet und der Kontrolle der Arbeiter*innen übereignet werden. Genau das ist ja aber leider nicht passiert. Bei den meisten enteigneten Betrieben wurde eine Verwaltung von regierungstreuen Funktionär*innen eingesetzt. Die Arbeiter*innen hatten oft gar kein Interesse an Selbstverwaltung, und selbst in Fällen, wo sie das ausdrücklich verlangten, wurde nicht auf sie gehört. Die Bilanz der verstaatlichten Unternehmen ist katastrophal. Meist hoben sie, bedingt durch staatliche Finanzinjektionen, kurzzeitig das Niveau der Produktion an, und kamen dann in kurzer Zeit fast völlig zum Erliegen. Gleich potemkinschen Dörfern wurde dann manchmal im Zuge einer Fernsehübertragung geschäftiges Treiben vorgetäuscht, wofür dann extra Produkte bei der kapitalistischen Konkurrenz gekauft wurden. Es ist völlig richtig, was die Gruppe schreibt: „Die Erfahrungen mit kollektiver Selbstverwaltung, mit Kommunalisierung und der Kontrolle durch die Arbeitnehmer haben gezeigt, dass sie dort, wo sie stark ausgeprägt sind, für Probleme des Gemeinschaftslebens Lösungen bieten.“ Leider hat das in der Praxis nur wenig stattgefunden, teils wegen der Apathie der Arbeiter*innen, vor allem aber, weil die Regierung in einer Abgabe von Betrieben an die Beschäftigten in erster Linie einen Kontrollverlust gesehen hätte. So übernahmen Funktionäre und Militärs, die oft von den Eigenheiten des Betriebes keinen Schimmer hatten, die Verwaltung, betrieben damit in erster Linie Propaganda für die Partei und steckten sich nebenbei in die eigene Tasche, was ging. Zusammengefasst könnte man die venezolanische Variante von Staatsbetrieben als eine Planwirtschaft ohne Planung bezeichnen.

Es ist nicht nötig, hier alle weiteren Aspekte auszuführen, die dafür gesorgt haben, dass Venezuela trotz jahrelanger hoher Erölpreise und einer Regierung, die sich verpflichtet hatte, diese Einnahmen in den Aufbau einer autonomen Wirtschaft zu investieren, heute ohne die finanziellen Zuwendungen der im Ausland arbeitenden Millionen von Bürger*innen verhungern würde. In vielen anderen Analysen, wie zum Beispiel denen des kommunistischen Ökonomen Manuel Sutherland, ist das schon ausführlich dargelegt. Natürlich gibt es einen Wirtschaftskrieg in Venezuela. Diesen Krieg hat Chávez selbst deklariert, als er versprach, das Land vom Kapitalismus in den Sozialismus zu überführen. Die Reichen werden ihr Kapital und ihre Privilegien immer mit Zähnen und Klauen verteidigen, und für antikapitalistische Revolutionär*innen sollte das eigentlich keine Überraschung sein. Aber dieser Krieg ist nicht die Hauptursache der venezolanischen Krise. Der Zusammenbruch des Produktionsapparates ist in erster Linie hausgemacht, durch eine verfehlte Regierungspolitik. Zu sagen, die „Krise, die das Land derzeit erlebt, sei eine unmittelbare Folge der US-Strategie, den Chavismus zu entmachten“, trifft die Realität nicht.

 

Im Organisatorischen

Der andere wesentliche Aspekt, den die an der Diskussion beteiligten Genoss*innen nicht verstanden haben, ist der Fehler, der in der Struktur der „bolivarianischen Revolution“ angelegt ist. Ohne die Korrektur dieses Fehlers werden auch erneute Versuche, den Prozess wieder in linkes Fahrwasser zu manövrieren, scheitern.

Die Freund*innen schreiben: „Wenn sich der Befreiungscharakter der Bolivarianischen Revolution auf etwas gründet, dann doch gerade darauf, dass sie bei der Herstellung der kollektiven Würde und der sozialen Gerechtigkeit auf die zentrale Rolle des Volkes zählte.“ Man sollte aber fragen: Wann genau hat das Volk eine zentrale Rolle gespielt? Dass Chávez an die Macht kam, war nicht das Ergebnis jahrelanger Basiskämpfe, sondern eine Mischung aus geschicktem taktischen Vorgehen einer handvoll Militärs, dem aussergewöhnlichen Charisma eines einzelnen Mannes, und einer günstigen historischen Konstellation, in der die althergebrachten Eliten sich komplett diskreditiert und verbraucht hatten. Dieser von „oben“ eingeleitete Prozess wurde phasenweise tatsächlich von der begeisterten, aber eher spontanen Mobilisierung der Menschen getragen, was seinen stärksten Ausdruck im Scheitern des rechten Putsches von 2002 fand. Durch die bald darauf erfolgte Gründung der sozialistischen Einheitspartei wurde dann aber alles getan, um diese spontante Organisierung in zentral kontrollierte geordnete Bahnen zu lenken. In den Folgejahren wurden zunehmend Initiativen, die sich ausserhalb dieser Kontrolle entwickelten, entweder integriert oder notfalls auch handfest unterbunden. Das beste Beispiel dafür sind die parteiunabhängigen Gewerkschaften, deren prominenteste Sprecher seit Jahren unter konstruierten Vorwürfen inhaftiert sind. Man konnte in Venezuela noch zu Chávez‘ Zeiten oft den Eindruck gewinnen, dass die Regierung härter gegen Organisationen vorgeht, die links von ihr entstehen, als gegen rechte.

Das kritiklose Verehren eines herausragenden, fast schon suprahumanen Kommandanten wurde unter Chávez eingeführt. Schon er predigte „die Ersetzung der Treue zur Revolution durch die Treue zur politischen Führung“. Ironie der Geschichte, dass nach seinem Tod eine Figur mit dem mittelmässigen Format eines Nicolás Maduro diese Rolle des „Übermenschen“ füllen sollte.

Was die Verfasser*innen des Diskussionspapiers nicht reflektieren ist, dass das „Fehlen wirksamer, rechtmäßiger und demokratischer Mechanismen der kollektiven Führung“ Ergebnis einer Struktur ist, die eben nicht auf die Basisorganisation als Ursprung der politischen Macht setzt, sondern die „Massen“ als manipulierbare Statist*innen einer Politik sieht, die von einem „Führer“ und seinen Getreuen definiert wird. Die Kommune als Grundlage des Staates war nie als eigenständig denkende oder gar handelnde Rätestruktur gedacht, sondern als eine Verlängerung der Parteimacht bis in die letzten Gemeinden hinein.

 

Konsequenzen

Die Vorschläge, die Krise anzugehen, können wir allesamt unterschreiben. Ein zentraler Punkt dabei ist die Forderung nach Transparenz in den Geldvergaben. Man hätte noch weiter gehen können und die Forderung nach einem umfassenden öffentlichen Audit der Regierungshaushalte seit 1999 übernehmen. Immerhin sind nach Schätzungen in dieser Zeit über 500 Milliarden US$ aus den Schatzkammern des Staates unbelegt verschwunden. Genug Geld, um aus Venezuela eine blühende Nation zu machen, wenn es verantwortungsvoll eingesetzt worden wäre.

Was aber fehlt, sind Vorschläge, wie eine sozialistische Wirtschaft aussehen könnte, die nicht die gleichen Fehler des konsumistischen Rentismus wiederholt. Die Autor*innen liegen richtig wenn sie sagen, man „erreiche die Repolitisierung des Volkes durch eine konkrete Lösung ihrer Probleme“. Die Lösung ihrer Probleme kann aber nicht von neuen Erlösern kommen, sondern muss von den Menschen selbst gestaltet werden. Es braucht deshalb konkrete Ideen, wie eine Organisierung aussehen könnte, die tatsächlich Macht von unten nachhaltig konstituiert.

Interview mit dem Naturheilarzt Dr. Ramón Rosales Duno

Geführt am 8.11.2019 im CAMIULA, Mérida.

Rosales Duno

Dr. Rosales Duno, Sie sind Internist und praktizieren seit Jahrzehnten eine alternative, präventive Naturheilkunde. Haben Sie irgendeinen Einfluß auf die öffentliche Gesundheitspolitik in Venezuela nehmen können?

RD: Nein, ich werde nicht berücksichtigt. Mir wurde nicht einmal eine Gelegenheit eingeräumt, mit dem Stadtrat oder unseren Länderparlament zu reden, geschweige denn mit dem Gesundheitsministerium.

Seit wievielen Jahren bewegen Sie sich nun im Bereich der Naturmedizin?

RD: Seit neunundvierzig Jahren.

Sie hatten zunächst eine Ausbildung im Sinne der klassischen Schulmedizin?

RD: Ja, das ist richtig. Klassisch im Sinne der westlichen Schulmedizin. Aber ich hatte bereits vor vielen Jahren eine Vorahnung, daß wir nicht in der Lage sein würden, die Kosten dessen zu tragen, was ich die „Medizin der Krankheit“ nenne. Ich habe sämtliche Bereiche der Krankenhausbetreuung seit den Anfängen der Krankenhäuser hier im Bundesstaat Mérida durchlaufen; ich war Direktor des gößten Krankenhauses im Westen des Landes, und ich sagte mir: „Ich erlaube es, daß die Menschen erkranken, weil sie schlechte Gewohnheiten haben, und dann erhebe ich mich über sie und behaupte, dass ich sie heilen könne.“ Soll heißen, ich ließ zu, daß die Leute erkrankten, um ihnen anschliessend das von mir sogenannte MAU-Paket zu verschreiben: Medikamente, Apparate, Untersuchungen, und damit die für die moderne Medizin so typische Abhängigkeit zu verstärken. Ich habe eine Art Voraussage des Desasters gemacht, das wir hier gegenwärtig haben, dieses Durcheinanders, dieses völligen Zusammenbruchs. Das hier ist ein totaler Zusammenbruch, aus dem es sehr schwierig werden wird, sich wieder zu erheben! Es sei denn es gelingt uns, dieses ganze, schon fast machiavellihaft entworfene System, was Leuten erlaubt zu erkanken, damit sie in das Geschäft mit der Krankheit fallen, zu umgehen. Im Grunde war ich nie mit diesem System einverstanden. Die Hospitäler fordern ein stets wachsendes Budget und niemals ist es ausreichend! Und heutzutage können Sie ein Budget größer als das des Staatshaushalts haben, und trotzdem gibt es keine Medikamente! In der Vergangenheit war ich zehn Jahre lang Koordinator einer Notaufnahme und niemals hat eine Ampulle, eine Spritze, ein Medikament oder irgendein Zubehör gefehlt. Ich frage mich daher, wieso, wenn es uns zehn Jahre lang an nichts in der Notaufnahme gefehlt hat, heute die Patienten absolut alles selber besorgen und bezahlen müssen?

Was meinen Sie, was der Grund für die Verknappung bzw. das gänzliche Fehlen von Medikamenten und ärztlichem Zubehör ist?

RD: Es gibt eine Gruppe Leute – Ärzte, Apotheker, Krankenpflegepersonal – die aus der Knappheit und den Bedürfnissen Profit schlagen. So wird den Patienten zum Beispiel mehr verschrieben und zum Kauf anbefohlen, als diese tatsächlich benötigen, und der behandelnde Arzt bewahrt die überschüssigen Medikamente zum späteren Weiterverkauf auf. Das Gesundheitssystem hat sich von einer Hilfeleistungseinrichtung in ein persönliches Bereicherungs- und Subsistenzmittel für eine Gruppe von Leuten verwandelt, die sich der Zerstörung unserer Krankenhäuser widmen und Medikamente sowie ärztliches Zubehör zu Aufpreisen an verzweifelte Kranke verkaufen. In anderen Worten: Diese Leute haben die Bedingungen geschaffen, daß die Kranken genau von dem abhängen, was jene aus dem Hospital gestohlen haben! Bedauerlicherweise handelt es sich hier um ein politisches Thema. Seitdem die Politik ihre Finger mit im Spiel hat, sind nicht nur das Gesundheitswesen, sondern auch unser Erziehungswesen einem schnellen Verfall erlegen, und alles ist zusammengebrochen. Schon heute, aufgrund der Devisenknappheit, haben wir keine Möglichkeit mehr, jemals die Dinge zu kaufen, die wir dringend benötigen. Schlimmer noch, uns wurden medizinische Apparate mit eingebautem Verschleiß verkauft, sodaß in regelmäßigen Abständen Ersatzteile gekauft oder die Apparate komplett ausgewechselt werden müssen. Das hat enorme, dauernd ansteigende Kosten verursacht, weil es eben ein Geschäft ist. Das MAU-Geschäft, wie ich eingangs erwähnte. In anderen Worten, wir sind in das Geschäft mit der Krankheit verstrickt worden, wir hängen davon ab und der Arzt hat im wesentlichen die Funktion, dieses Geschäft vermittels der Verschreibung von möglichst vielen Medikamenten und der Anordnung möglichst vieler medizinischen Untersuchungen aufrechtzuerhalten.

Gibt es hier keine alternative Medizin in größerem Umfang mit einer etwas integraleren, humaneren Sichtweise?

RD: Nein. In Venezuela wurde nie eine Gesundheitspolitik entwickelt, die zum Beispiel einen Kommunal-Apotheker in Betracht gezogen hätte, der die Gemeinden mit medizinischen Kräutern aus ihrer eigenen Umgebung begleitend unterstützen und unterrichten könnte, wie man zum Beispiel Getränke, Tees, Tinkturen und Umschläge aus Heilkräutern herstellt. Damit könnte man schon einiges bewirken. Es gab und gibt diesbezüglich auch heute noch keinerlei Beratung. Unsere Pharmazeuten hier sitzen in luxuriösen Büros oder in Privatkliniken und verrichten die Arbeit von Geldverwaltern. Sie bestimmen die Preise der Medikamente auf der Basis ihrer Ankaufskosten zuzüglich eines satten Aufschlags, was dann den Endpreis ergibt, den der Patient bezahlen muss. Es gibt keinen wirklichen Kommunalarzt oder -Apotheker, an den Sie sich notfalls auch um drei Uhr morgens wenden können, wenn Sie ein Gesundheitsproblem haben oder Erste Hilfe benötigen und auf dem Land wohnen. Das war der Grund, weshalb die Revolution Ärzte aus Kuba einführen musste, damit diese die Leute auf dem Land oder in den Randgebieten betreuen konnten. Die Leute starben schmerzvoll an ihren Leiden, weil es weit und breit keinen Arzt gab! Stellen Sie sich das einmal vor! Und das änderte sich erst mit der Präsenz der kubanischen Ärzte. Für mich war es immer unvorstellbar, daß ein Krankenhaus, eine ambulante Behandlungsstation oder ein Gesundheitszentrum nicht 24 Stunden am Tag geöffnet sein sollte! Aber all das war ein politisches Problem, eine Frage der Gesundheitspolitik. Die auszubildenden Ärzte zum Beispiel, die die Verpflichtung hatten, zwei Praxisjahre in den entlegendsten Regionen auf dem Land zu absolvieren, machten diese in der Stadt und überließen die kranke Landbevölkerung, die Kleinkinder und alten, gebrechlichen Leute dort ihrem Schicksal. Also das hat mich so getroffen, daß ich Konsequenzen zog. Ich habe doch nicht aus Witz studiert, ich habe doch nicht Medizin studiert, um es mir einfach zu machen und das Geld zu kassieren! Ich habe doch eine Berufung um zu helfen, um nützlich zu sein, um die Kranken in ihrem Schmerz zu begleiten und ihnen zu ermöglichen, ihr Gesundheitsproblem zu lösen. Aber nicht in dem Sinne, ihnen Medikamente zu verschreiben. Medikamente heute sind teurer denn je und nur die wenigsten können sie kaufen. Und da können Sie doch nicht einen Arzt ausbilden, der dieser Wirklichkeit gegenüber gleichgültig und nicht in der Lage ist, den engen Begriffsrahmen der klassischen, westlichen Schulmedizin zu verlassen! Was wir brauchen, sind Ärzte mit einer doppelten Bildung – klassische Schulmedizin und Naturheilkunde. Soll heissen, wenn wir uns in einer Situation befinden, wo Medikamente knapp sind oder wo es keine gibt, können wir den Patienten mit Kompetenz eine alternative, natürliche Heiltherapie anbieten. Aber nein, die Mehrheit der Ärzte hier sitzt mit verschränkten Armen herum wenn sie keine medizinischen Untersuchungen anordnen oder Medikamente verschreiben können, weil sie keine Ahnung von Naturheilkunde haben.

Und wie kommt es, Dr. Rosales Duno, daß Sie Kenntnis der Naturheilkunde haben?

RD: Von den neunundvierzig, fast fünfzig Jahren, die ich nun Arzt bin, habe ich vierzig dem Studium der Naturheilkunde gewidmet. Ich begann zu untersuchen, wie die Generationen vor uns – unsere Eltern, Großeltern, Urgroßeltern – ihre Krankheiten geheilt haben. Die Apotheke unserer Urgroßeltern war der Kräuterkorb oder die Sträucher im Garten. Vieleicht wussten sie nicht einmal immer, weshalb sie dies oder jenes Heilkraut benutzten und welche Funktion genau es hatte. Sie setzten die Hausmittel so ein, wie es ihnen ihre Eltern, Großeltern usw. beigebracht hatten. Und wissen Sie was? Sie wurden neunzig, hundert Jahre alt, oft ohne nenneswerte Krankheiten. Sie arbeiteten hart, trugen schwere Lasten, hatten ein nach unseren heutigen Maßstäben bemessenes karges Leben, und dennoch wurden sie fast nie krank. Heute kennt kaum einer von uns jemanden, der hundert Jahre alt geworden ist. Die meisten von unseren Generationen sterben viel früher. Wir haben heute viel umfassendere Einrichtungen, wir haben Krankenhäuser, Kliniken, ambulante Behandlungsstationen, Ärzte, Apotheker, Krankenpflegepersonal, unsere moderne Medizin, aber wir werden nicht alt! Etwas läuft grundsätzlich schief und daher kann ich das Ganze nicht befürworten. Deshalb habe ich mich der Naturheilkunde zugewandt und auch ein Bildungsprogramm namens „Erziehung zur Gesundheit“ oder zum Leben, wenn Sie so wollen, entworfen. Vielleicht ist es das einzige Programm dieser Art, aber hier wird es bedauerlicherweise nicht zur Kenntnis genommen. Dieses Programm zeigt einen Ausweg aus dem perversen Geschäft mit der Krankheit auf. Was ich anstrebe ist die Erziehung zur Gesundheit, die Lebensmedizin. Ich möchte bewirken, daß jeder weiß, wo er oder sie steht, wohin sein oder ihr Gesundheitszustand tendiert, damit entsprechende Vorkehrungen getroffen und Krankheiten vermieden werden können. Darum geht es. Zu wissen, wie man/frau sich schützt. Es gibt vier wichtige Bereiche, die uns als Menschen konstituieren, und die wir pflegen müssen. Zum einen, unser Gehirn, zweitens, unser Körper, drittens, unsere Emotionen und viertens, unsere Spiritualität. Letztere ist aber nicht im religiösen Sinne zu verstehen. Es geht um unsere innere Schönheit, um unsere Lebensenergie, die wir anderen mitteilen und die wir mit anderen teilen. Darunter fällt auch unsere Bereitschaft zu helfen, solidarisch untereinander zu sein, Empathievermögen zu haben. Schauen Sie, ich habe folgende Prämisse: Je mehr ich anderen helfe, desto mehr helfe ich mir selbst. Warum? Weil ich mich motiviere, weil ich mit meinen 75 Jahren jeden Morgen mit Energie und Freude aufstehe, Gymnastik mache und dann zu Fuß den steilen Berg hoch in die Stadt zu meiner Beratungsstelle wandere. Ich helfe, und es macht mir Freude. Ich vermeide Negativität, ich versuche, mich nicht von schlechten Nachrichten oder einer schlechten Stimmung meiner Mitmenschen in meiner positiven Grundhaltung dem Leben gegenüber beeinflussen zu lassen. Wir gewinnen zum Beispiel nichts, wenn wir schlecht gelaunt sind oder gar jemanden hassen, im Gegenteil: Es schmälert unsere Gesundheit, von der unsere Emotionen ein integraler Bestandteil sind.

Wie fällt Ihre Diagnose des heutigen Gesundheitswesens in Venezuela aus?

RD: Es gibt eine ganze Reihe verheerender Variablen, die an der Zerstörung unseres Gesundheitswesens schuld sind. In Zeiten des Erdölbooms zum Beispiel wurden hier medizinische Geräte wie Computertomographen oder Magnetresonanzgeräte importiert, wie Sie sie in den besten Hospitälern Europas kaum finden. Aber unsere Politiker, die das bestimmen, haben keinen blassen Schimmer von einem integralen Gesundheitsbegriff. Sie glauben, daß man mit den Devisen aus dem Erdölexport, wenn die Preise hoch sind, alles kaufen muß, egal was es kostet und egal, wie schlecht beraten man damit ist. Denn die Technologie ist nicht unsere. Viele Apparate, die importiert worden sind, haben die Deutschen hergestellt, Siemens zum Beispiel. Aber nun kommen wir nicht an die Ersatzteile heran, wegen der Sanktionen. Und wir haben auch keine Wartungsverträge, dergestalt, dass unsere Geräte von ausländischen Technikern gewartet und falls nötig repariert würden, was jetzt auch ohnehin wegen der Sanktionen nicht möglich wäre. In anderen Worten: Unsere für teures Geld importierten, medizinischen Spitzentechnologiegeräte sind praktisch Wegwerfgeräte! Dazu gesellt sich noch die Sabotage seitens derjenigen, die in unserem Gesundheitswesen dank ihrer Kontakte zur regierenden Partei beschäftigt sind, aber keine Berufung und manchmal nicht einmal die nötige Qualifikation haben. Das sind dann die Leute, die die Apparate aufgrund ihrer Inkompetenz oder absichtlich beschädigen, um die noch intakten Einzelteile als Ersatzteile an andere Hospitäler oder Privatkliniken weiterzuverkaufen. Ebenso verfahren sie mit der medizinischen Grundausrüstung und den Medikamenten, weshalb die Privatkliniken auch meistens noch funktionieren. Aber unsere öfentlichen Krankenhäuser sind alle am Boden: Kaputte Apparate, fehlende Grundausrüstung, keine Medikamente. Was blüht und gedeiht ist der Schwarzhandel mit dem Diebesgut. Es sind ungeheuerliche Dinge ans Licht gekommen! So wurden zum Beispiel doppelte Böden mit reichlichem Stauraum in Hospitälern entdeckt, in denen tausende von Medikamenten aufbewahrt wurden, bereit zum Transport nach Kolumbien. Man kann schon von mafiaähnlichen Strukturen sprechen, die sich in unserem Gesundheitswesen eingenistet haben. Sogar die Krankenhausverpflegung wird zum Teil geraubt – abtransportiert in Schmutzwäschewagen und auf der Strasse zu Überpreisen weiterverkauft. All das zu Lasten unserer Patienten, deren Not unvorstellbar ist!

Was schlagen Sie vor, was gegen diese schreckliche Situation unternommen werden sollte?

RD: Sehen Sie, das gegenwärtige Desaster wird von der Tatsache begleitet bzw. verstärkt, daß es zu keinem Zeitpunkt eine Unterstützung für die Naturheilkunde gegeben hat. Sie hätte eine genauso gewichtige Stellung im Gesundheitswesen einnehmen müssen, wie die klassische Schulmedizin. Ich habe nichts gegen die klassische Schulmedizin oder Allopathie, und nichts gegen Untersuchungen und die Verschreibung von Medikamenten, wenn es wirklich nötig ist und nichts anderes mehr hilft. Aber Du liebe Zeit! Wenn wir so eine Situation vorliegen haben und kaum jemand mehr die Kosten für eine klassische Behandlung aufbringen kann, da müssen wir doch eine Alternative anbieten können! Und diese Alternative ist die Naturheilkunde. Die Lösung liegt auf der Hand, nämlich in der Naturmedizin, in einer gesunden Ernährung und in der Vorbeugung, in der Erziehung, fast Aufklärung hin zu einem gesunden Leben und einer lebendigen Gesundheit.

Können Sie das noch kurz etwas ausführen?

RD: Die Erziehung zu einem gesunden Leben geht Hand in Hand mit einem gut informierten Leben, mit Wissen und Bewußtsein. Wir müssen wissen, daß wir sind, was wir essen. Und wir müssen zu der Einsicht kommen, daß unsere Nahrung unsere Medizin, und unsere Medizin unsere Nahrung sein sollte, nach einer alten Weisheit von Hippokrates, dem Vater der modernen Medizin. Das lässt sich meines Erachtens nur dann erreichen, wenn keine Verbote auferlegt werden. Ich verbiete meinen Patienten nichts; ich erkläre ihnen nur die Wirkungsweise der jeweiligen Nahrungsmittel auf ihren Organismus, damit sie es selber in die Hand nehmen können, etwas an ihrer Ernährung zu ändern, wenn sie wirklich möchten. Und jeder, der sich darauf einlässt, kann das Resultat empirisch an sich selber feststellen. Drei wesentliche Komponenten eines gesunden Lebens sind Bewegung, eine liebevolle, emotionale Grundeinstellung und eine weitestgehend natürliche Ernährung. Bewegen Sie sich täglich soviel Sie irgend können zu Fuß, ohne Ausrede, ohne Bequemlichkeit. Seien Sie liebevoll! Wenn ich liebe, wenn ich keine Haßgefühle kenne oder in mir trage, bin ich stets bereit anderen zu helfen und pflege meine Menschlichkeit. Und schließlich, ernähren Sie sich so natürlich wie möglich – Obst, Gemüse, Blattgemüse, Hülsenfrüchte, Körner, Samen, Nüsse und Fisch, und vermeiden Sie abgepackte, industriell hergestellte Nahrungsmittel. Wenn Sie sich darüberhinaus zumindest ein Mal im Jahr einem generellen Gesundheitsexamen unterziehen, wissen Sie, wohin Ihre Gesundheit tendiert und Sie können sich entsprechend schützen. Das ist, was die Leute wissen müssen und ich versuche, sie in meinen Vorträgen zum eigenen Nachforschen und zur Selbsthilfe zu motivieren. Ein kleines Beispiel aus meiner Praxis: Ich habe Personen behandelt, die jahrzehntelang Medikamente gegen Bluthochdruck eingenommen haben und binnen zwei Wochen konnten sie ihre Medikamente absetzen. Ich ersetze sie mit Knoblauch, Tomate, Cayennepfeffer, verschiedenerlei Samen, die natürlich auch kontinuierlich eingenommen werden müssen, aber keine Nebenwirkungen erzeugen und die Abhängigkeit von der Pharmaindustrie durchbrechen. Von zehn Personen, die Medikamente gegen Bluthochdruck einnehmen, tun dies neun ohne tatsächliche Notwendigkeit! Können Sie sich das Ausmaß des unnötigen, täglichen, weltweiten Medikamentenkonsums wegen Bluthochdruck vorstellen? Das ist unfaßbar! Oder um ein anderes Beispiel zu nennen, meine Krebspatienten. Ich habe erfolgreiche Behandlungen mit Natriumhydrogenkarbonat und einer Umstellung auf basische Ernährung durchgeführt, denn unsere Körper sind für gewöhnlich völlig übersäuert, da wir überwiegend Nahrungsmittel zu uns nehmen, die sauer verstoffwechselt werden. Wir essen kein Obst, wir essen keine Zitrusfrüchte und Krebskranken wird obendrein der Verzehr von Zitrusfrüchten verboten! Oder Körner und Hülsenfrüchte, die die besten Freunde des Darms sind. Wer Körner und Hülsenfrüchte ißt, bekommt keinen Darmkrebs. Aber den Darmkrebspatienten wird der Konsum von Körnern und Hülsenfrüchten verboten. Das ist ungeheuerlich, absurd! Das muß einfach gesagt werden, das darf man nicht verschweigen.

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Hat die Zahl der Patienten zugenommen, die Ihre Beratungsstelle aufsuchen und die Ihre Vorträge besuchen?

RD: Zweifelsohne, aufgrund der wirtschaftlichen Situation im Lande. In den Jahren des Erdölbooms waren es erheblich weniger. Aber die Venezolaner haben eine große Schwäche: Sie haben keine Ausdauer, keine Beständigkeit. Die Leute kommen zu mir und sobald sich ihr Gesundheitszustand verbessert hat, verschwinden sie. Dann fallen sie in ihre alten, normalen Lebensgewohnheiten zurück, erkranken erneut und kommen wieder. Sie bleiben nicht bei der Sache, sie sind nicht konstant. Der Grund, weshalb jetzt mehr Leute zu mir kommen, ist die Tatsache, daß sie die ihnen verschriebenen Medikamente nicht mehr kaufen können, weil sie zu teuer sind, und daß die Leute Angst haben zu sterben, wenn sie ihre Medikamente nicht nehmen können. Das geschieht also nicht aus einer informierten Kenntnis und bewußten Entscheidung heraus, sondern aus der Not, wegen der Wirtschaftskrise.

In Begriffen sozialer Klassen gesprochen, was für Leute besuchen Ihre Vorträge?

RD: Ich glaube unter meinen Zuhörern gibt es mehr Bildungsmenschen der gehobenen Mittelklasse als einfache, arbeitende Bevölkerung. Das einfache Volk hat keine Mittel um den Transport in die Stadt zu bezahlen und meine Vorträge hören zu können. Diejenigen, die auf dem Lande oder in den Randgebieten der Stadt wohnen, sind auf den öffentlichen Transport angewiesen und der ist hier miserabel, er funktioniert einfach nicht. Außerdem ist er sehr teuer. Und da der aktuelle Mindestlohn nicht einmal ausreicht, um die Transportkosten einer Person zu decken, die sich täglich in die Stadt und wieder zurück nach Hause begeben muss, ist das ein Faktor, der die Leute daran hindert, zu kommen. Deshalb bin ich ja früher mit meinem Toyota in die abgelegenen Gemeinden gefahren, um dort vor Ort meine Vorträge zu halten und die Leute zu beraten. Aber mein Fahrzeug ist vor fünf Jahren kaputt gegangen und nun bin auch ich auf den öffentlichen Transport angewiesen, den ich mir ebenfalls kaum leisten kann. Darum habe ich dann eine Art Informationsnetz über meine Programme in verschiedenen Radiosendern entworfen, damit ich auch die Leute erreiche und informieren kann, die nicht zu mir kommen können. Aber hier hat die Zahl meiner Zuhörer insgesamt zugenommen, weil auch der gehobenen Mittelklasse das Geld oft nicht mehr für eine orthodoxe, medizinische Behandlung reicht. Hier in Mérida sagen wir: Es gibt kein Übel, was nicht seine gute Seite hätte, und in diesem Sinne bringt die Krise auch Vorteile für den Gesundheitszustand der Bevölkerung: Wir bewegen uns viel mehr zu Fuß und wir essen mehr natürliche Produkte als industriell gefertigte, weil letztere so teuer geworden sind. Und wir haben angefangen, mehr auf die natürliche, alternative Medizin zurückzugreifen. Das sind Schritte hin zu einem gesünderen Leben, würde ich sagen.

Also das könnte man die positive Seite der Krise nennen?

RD: Ganz genau!

Dr. Rosales Duno, wir danken Ihnen für dieses Gespräch!

Gesundheitsversorgung in Venezuela

Das abgewrackte Flaggschiff der Revolution

Kurze Diagnose des venezolanischen Gesundheitswesens

Eines der zentralen Projekte des Chavismus war die kostenlose und allgemein zugängliche Gesundheitsversorgung. Nachdem jahrzentelang nur die Bessergestellten sich angemessene Gesundheitsdientse leisten konnten, brachte die „Misión Barrio Adentro“ mit ihren kubanischen Ärzten und massiven Investitionen in die Infrastruktur die medizinische Versorgung zu den Armen. Die von Chávez initiierte Verfassung von 1999 verankerte deshalb auch die Gesundheit als gesellschaftliches Grundrecht. In den Artikeln 83-85 verpflichtet sich der venezolanische Staat eine Gesundheitspolitik zu fördern, die den allgemeinen Zugang zu den gesundheitsbezogenen Dienstleistungen, eine angemessene Behandlung im Falle von Krankheit und eine nachhaltige Rehabilitation als Teil des Grundrechts auf Leben garantiert, sowie ein integrales Gesundheitswesen aufzubauen. Zu den zentralen Kriterien eines solchen gehören eine funktionale, ausreichende Infrastruktur (Krankenhäuser, Kliniken, ambulante Behandlungsstationen, Apotheken, Labore, Krankentransportwesen und Fahrzeugflotte), der ungehinderte Zugang zu effizienten Dienstleistungen, das Vorhandensein von qualifiziertem Personal in ausreichender Anzahl (Ärzte, Fachärzte, Chirurgen, Anästhesisten, Krankenpflegepersonal), die regelmäßige Datenerhebung und Veröffentlichung von Statistiken über Krankheiten, Epidemien und den allgemeinen Gesundheitszustand der Bevölkerung; sowie eine ausreichende und permanente Verfügbarkeit von Medikamenten, Impfungen und technisch-medizinischer Ausrüstung für Diagnose und Behandlung für Patienten aller Einkommensklassen.

Die anhaltende Wirtschaftskrise, seit 2017 verstärkt durch die US-Sanktionen, hat verheerende Folgen für das venezolanische Gesundheitswesen, womit das Recht auf Gesundheit nicht mehr gewährleistet werden kann. Neben dem gravierenden Medikamentenmangel und dem allgemeinen Verfall der bestehenden Infrastruktur einschließlich der technischen Geräte, stellt die Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte einen gewichtigen Faktor dar. Laut Zahlen der Organización Panamericana de la Salud vom Juli letzten Jahres sind von den 66138 Ärzten, die es 2014 in Venezuela gab, 22000 ausgewandert. Dazu kommen 6600 von insgesamt 20000 Laborwissenschaftlern (33%) und 6030 von insgesamt 24500 Krankenpflegern (24%). Die meisten von ihnen sind aus ökonomischen Gründen nach Chile, Ecuador, Spanien und die USA gegangen – den Ländern mit der höchsten Präsenz von qualifizierten, emigrierten Arbeitskräften. (1)

Laut Angaben des Medikamentenmangel-Indexes für acht venezolanische Großstädte vom Oktober 2019, erstellt von der Nichtregierungsorganisation CONVITE, belief sich der durchschnittliche Mangel an den gängigsten Medikamenten auf 58,4%. Nach Erkrankung differenziert waren es bei Diabetes 60,2%, bei Bluthochdruck 47,9%, bei akuten Atembeschwerden 76,2%, bei Durchfallerkrankungen 49,2%, bei Antidepressiva 78,9% und bei Epilepsie 78,1%, wobei die verschiedenen Städte teilweise sehr unterschiedlich von der Knappheit betroffen sind. Caracas, Barquisimeto und Mérida sind am schlechtesten versorgt. In ihrem Informationsblatt vom Oktober 2019 weist CONVITE außerdem auf eine allgemeine Verschlimmerung der Atemwegserkrankungen hin, die sich auf die zunehmende Verwendung von Brennholz als Ersatz für das ebenfalls immer knapper werdende Kochgas zurückführen liesse. (2)

Über chronisch erkrankten Patienten wie Diabetikern, Epileptikern, Patienten mit Nieren-, Herz- und Gefäßerkrankungen, von Krebs und Aids betroffenen Menschen und generell allen, die auf chirurgische Eingriffe, Organtransplantationen, Dialyse und sonstige interventionistische Verfahren angewiesen sind, hängt das Damoklesschwert. So sagt der ehemalige venezolanische Gesundheitsminister Rafael Orihuela, daß in den vergangenen vier Jahren mehr als 3000 Dialysepatienten wegen fehlendem medizinischen Zubehör gestorben sind, oder weil sie sich die Nierentransplantation in einer Privatklinik nicht leisten konnten, deren Kosten derzeit bei ca. 50000 US-Dollar liegen. (3) Die Vereinigung Ärzte für Gesundheit stellt in ihrer landesweiten Krankenhausbefragung „Encuesta Nacional de Hospitales“ (ENH) vom September 2019 mit Besorgnis fest, daß zwischen November 2018 und September 2019 85,6% der Computertomographie- und Magnetresonanzdienste in Venezuela nicht verfügbar waren. (4) In einer früheren Umfrage, die vom Bericht der UNO Menschenrechtskommission über Venezuela vom Juli 2019 zitiert wurde, stellt die ENH fest, dass zwischen November 2018 und Februar 2019 1557 Patienten wegen Mangel an medizinischem Zubehör in Krankenhäusern starben. Darüberhinaus kamen 40 Personen infolge des Mega-Stromausfalls vom März 2019 ums Leben (5), was die äußerst prekäre Situation im Zusammenhang mit dem maroden Stromversorgungsnetz verdeutlicht.

Die Regierung Maduro hat bis jetzt nicht, bzw. kontraproduktiv auf die gravierenden Probleme im Gesundheitswesen reagiert. Diejenigen Krankenhausdirektoren und Ärzte, die eine sofortige und angemessene Ausrüstung der Krankenhäuser mit Medikamenten und Zubehör fordern und sich dabei auf die in der Verfassung verankerte Fürsorgepflicht des Staates berufen, setzen sich der Gefahr der Entlassung oder anderer Vergeltungsmaßnahmen aus. So wurde der Chirurg Ronnie Villasmil Opfer einer Hausdurchsuchung seitens staatlicher Sicherheitskräfte mit der Absicht, ihn festzunehmen, nachdem er am 15. März der Abordnung der UNO Menschenrechtskommission die desolate Situation der Krankenhäuser des Bundesstaates Carabobo dargelegt hatte. (6)

Auch „schwergewichtigere“ Persönlichkeiten mußten derartige Erfahrungen machen, wie die im Januar 2017 von Präsident Maduro ernannte Gesundheitsministerin Antonieta Caporale Zamora. Unter ihrer Leitung veröffentlichte das Gesundheitsministerium erstmals wieder die seit Juli 2015 zurückgehaltenen Statistiken, aus denen ein Anstieg der Mütter- und Kleinkindersterblichkeit auf jeweils 65,79 und 30 Prozent, sowie ein dramatischer Anstieg von Malaria und anderen infektiösen Erkrankungen zu ersehen war. Caporale wurde umgehend nach Veröffentlichung der Statistiken ihres Amts enthoben. (7)

Die andere Seite der Medaille: Krise als Chance?
Selbst ist der Mensch

Venezuela ist ein Land der Mystik und der Wunderheilung. Zwar wurden hier in den goldenen Jahren des leicht gewonnenen Geldes pro Kopf mehr Medikamente konsumiert als sonstwo in Lateinamerika. Aber jetzt, wo diese Medikamente für viele unerschwinglich geworden sind, besinnen sich die Menschen wieder auf altes überliefertes Wissen über natürliche Formen der Heilung. Selbstverständlich schwimmt in diesem Sud der Überlieferung auch einiges an Aberglauben und Budenzauber mit. In einer Kultur, wo übersinnliche Wesen und religiöse Dogmen einträchtig nebeneinander leben, hat die Wissenschaft einen schweren Stand. Aber bei vielen der gängigen Methoden zur pflanzlichen Behandlung und Vorbeugung von Krankheiten ist die Wirksamkeit ja tatsächlich nachgewiesen. Und auch im Falle von Behandlungen mit Kräutern, die ausser dem nicht zu unterschätzenden Placeboeffekt keine weiteren Auswirkungen haben, sind wenigstens in den meisten Fällen keine negativen Auswirkungen zu befürchten. Es wäre schön, wenn das gleiche von den sonst inflationär konsumierten Pharmaka der „westlichen Medizin“ behauptet werden könnte.

Gesünder leben dank Armut?

Was die Mangelernährung im Land betrifft, so ist auch hier eine differenzierte Sichtweise geboten. Hunger ist schrecklich, und beim Anblick von Menschen, die sich vom Abfall anderer ernähren, dreht es uns den Magen um. Aber während der Jahre des Überflusses haben sich zumindest die Ärmeren, die hier drei Viertel der Bevölkerung ausmachen, auch sehr schlecht ernährt. Gutes Essen war assoziiert mit dem täglichen reichlichen Konsum von Masthähnchen, die mit Hilfe von Hormonen und transgenischem Soja in nur sechs Wochen auf ein Schlachtgewicht von eineinhalb Kilo aufgepumpt werden. Dazu Unmengen von Fett, Kohlenhydrathen und Zucker, während Obst und Gemüse in eher homöopathischen Dosierungen vorkamen. Bei den massiven Kampagnen in den Anfangsjahren des Chavismus zur besseren Ernährung der Bevölkerung spielte die Qualität des Essens eine untergeordnete Rolle, es ging in erster Linie um die Menge und die Erschwinglichkeit. Die staatlichen Mercals und PDVALs waren nicht nur Synonyme für fast geschenkte, sondern auch für qualitativ minderwertige Nahrung. Und das hat natürlich Auswirkungen auf die Gesundheit.

Wer vor rund zehn Jahren in Venezuela war, kann sich vielleicht noch an die erstaunliche Menge dicker Menschen, vor allem Jugendlicher, erinnern. Dieses Bild ist weitgehend verschwunden. Die Leute sind heute im Durschnitt viel dünner. Die angespannte Finanzlage in den Haushalten der arbeitenden Bevölkerung zwingt sie dazu, für das wenige Geld die grösstmögliche Menge an Nahrungsmitteln zu kaufen, ohne dabei besonders auf Nährwert und geschmackliche Präferenzen zu achten. Das führt natürlich in erster Linie zu einem erhöhten Konsum von Kohlenhydrathen. Proteine bleiben auf der Strecke, ebenso wie das zumindest in den Städten sündhaft teure Gemüse. Dafür aber werden auch kaum noch Erfrischungsgetränke und Knabberzeug konsumiert, die früher einen grossen Teil der täglichen Diät gerade bei Kindern ausmachten. Bananen, die in Venezuela überall wachsen und wegen der grossen Verfügbarkeit, den geringen Produktionskosten und der kurzen Haltbarkeit relativ billig sind, haben sich zum Hauptnahrungsmittel gemausert. Abgesehen von der epidemischen Verunreinigung der Strassen durch Bananenschalen, sicher ein positiver Aspekt.

Die CLAP – Kisten, also die von der Regierung fast verschenkten und wenigstens in Caracas sehr regelmässig gelieferten Lebensmittelpakete der Regierung, bestehen in erster Linie aus Kohlenhydrathen. In der Hauptstadt machen diese für die meisten den Hauptteil der Ernährung aus, auch weil Obst und Gemüse hier überdurchschnittlich teuer sind. Aber Venezuela ist mehr als Caracas, und im Rest des Landes treffen die CLAP wesentlich seltener ein, oft nur drei oder viermal im Jahr. Hier wird also zwangsläufig mehr Gemüse konsumiert, es ist hier schliesslich auch billiger. Bei Obst und Gemüse aber hat ein wichtiger Wandel stattgefunden, der sich positiv auf die Gesundheit der Bevölkerung auswirkt. Da fast nichts davon mehr importiert wird, und weil Pestizide und andere Agrogifte für die Landwirte kaum noch erschwinglich sind, ist das Essen viel weniger vergiftet. Nicht als Ergebnis eines bewusstseinsbildenden Prozesses, wie er zunehmend in den reichen Ländern stattfindet, sondern als erzwungenes Ergebnis der Krise.

Dass Stress krank macht, ist bekannt. Der zunehmende Verfall in fast allen Bereichen des täglichen Lebens und die scheinbare Auswegslosigkeit der Situation haben bei sehr vielen zu einer permanenten Panikstimmung geführt, besonders in den ersten Jahren der Krise. Egal, wohin man kam, war das Gesprächsthema immer das gleiche: “Hast du gesehen, was das oder das jetzt kostet?” und “Wie soll das alles enden?”, ein ständiges, verzweifeltes Wiederkäuen negativer Ideen und Beklagen vermeintlich unabänderlicher negativer Zustände. So eine Haltung ist ungesund. Statt der Ausschüttung von Glückshormonen wird der Magen sauer, und die Nerven liegen blank. Wahrscheinlich gibt es auch hierüber keine Untersuchungen, aber die Konsequenzen dieser Negativität auf die gesellschaftlichen Gesundheitsstatistiken müssen hoch sein. Man muss sich nur vorstellen, wie durchschnittliche Deutsche auf nur einen winzigen Bruchteil von all diesem Chaos reagieren würden. Die Nervenheilanstalten würden wohl kollabieren. Aber mit dem Ende der grossen Mobilisierungen seit zwei Jahren hat sich eine allgemeine Resignation eingestellt, und die verzweifelten Klagen weichen nach und nach einem abgeklärteren Sichfügen in das Unvermeidliche. Die bis jetzt noch nicht das Land verlassen haben, die haben sich mit ihrem Schicksal abgefunden und sich ihrem Gott anvertraut. Eine Haltung, die wir in dieser Radikalität bisher nur in Venezuela gesehen haben. Da kaum noch etwas funktioniert, müssen auch die Menschen immer weniger funktionieren. Es wird immer weniger und immer langsamer gearbeitet, und immer mehr rumgesessen und nichts getan. Der Stress nimmt ab, und damit der Ausstoss von Magensäure.

Der weitgehende Zusammenbruch des öffentlichen und privaten Personenverkehrs wegen Ersatzteilmangel und Benzinknappheit hat auch zu einer anderen erfreulichen Neuerung geführt: Die Menschen laufen wieder. In Venezuela war die Fortbewegung zu Fuss in der Vergangenheit verpönt. Man lief nicht, man fuhr. Besucher*innen erinnern sich sicher noch an das absurd wirkende Bild von Menschenmassen, die sich in der U-Bahn auf die Rolltreppe zu quetschen versuchten, während die Treppe daneben völlig menschenleer blieb. Das ist vorbei. Die Rolltreppen sind kaputt und man steigt Treppen, sehr zur Freude des Kreislaufs. Da für viele die Fahrtkosten zur Arbeit den gesamten Lohn ausmachen und Transportmittel immer knapper und teurer werden, sieht man zu den Stosszeiten auch immer mehr Leute laufen.

Ist Décroissance gesund?

Wir haben ein paar Aspekte des schleichenden Zusammenbruchs einer Ökonomie dargestellt und ihre möglichen Auswirkungen auf die Gesundheit. Für manche mag es zynisch erscheinen, in all der Not auch positive Aspekte zu suchen, und in vielen Fragen verbietet sich diese Sichtweise auch. Von einem wissenschaftlichen Standpunkt aus scheint es uns aber interessant zu sein, die Situation mit objektiven Augen zu betrachten, anstatt sich dem üblichen Hype anzuschliessen und in Venezuela einfach nur den Untergang eines angeblich funktionierenden Wirtschaftsmodells zu sehen, der den Menschen alles nimmt, was sie glücklich macht. Dass in den glitzernden Konsumgesellschaften des “Westens” alles besser funktioniert als im venezolanischen Chaos, bestreiten wir nicht. Aber wir würden uns sehr über eine unabhängige und nicht von ideologischen Prämissen ausgehende Untersuchung freuen, die der Frage nachgeht, wie gut oder schlecht es den Menschen hier tatsächlich geht. Die nicht nur ökonomische Kategorien untersucht, sondern fragt, was für die Gesundheit und das Wohlbefinden des Menschen tatsächlich wichtig ist. Wir können diese Untersuchung nicht leisten, weil wir die dafür notwendigen Informationen und Mittel nicht haben. Aber etwas sagt uns, dass das Ergebnis anders ausfallen könnte als das, was die Leute erwarten, die das venezolanische Debakel nur durch die kapitalistische Brille betrachten.

Brustkrebspatientin Lili : „Ich bin dankbar für die Erfahrungen, die ich während meiner Krankheit gemacht habe.“

Kannst du dich bitte vorstellen? Wer bist du, was machst du, was ist deine Krankheit?
Ich heisse Lili (Name geändert), ich bin 51 Jahre alt und arbeite an der Uni. Als ich vor einem Jahr von einer Auslandsreise zurück kam, war ich besorgt, weil ich einen Knoten zwischen Achsel und Brust spürte. Ich bin dann zu eine Spezialisten in Sachen Brustkrebs gegangen, der die entsprechenden Tests gemacht hat, Biopsie und so weiter. Schon damals brauchte ich die Hilfe einer Stiftung im Ausland, um diese Analysen machen zu lassen. Schon damals hat sowas in Venezuela sehr viel Geld gekostet. Ich musste das mit der Stiftung machen, weil ich mit meinem Lohn, selbst unter Einbeziehung des Weihnachtsgeldes, diese Biopsie nicht hätte bezahlen können.

Und deine Krankenversicherung hat das nicht übernommen?
Die Uni hat ihre eigene Gesundheitsvorsorgung. In Venezuela gibt es mehrere Optionen: Entweder über den Staat, also IVSS etc., und wir an der Uni haben auch noch das „Camiula“, und dazu noch zwei Versicherungen: eine vom Staat, und eine von der Uni selbst. Bis vor ca. einem Jahr hatten die öffentlich Angestellten und wir von der Uni dieses Privileg, dass diese Art von Dingen übernommen wurden. Im Camiula hätte ich die Tests machen lassen können, aber ich hätte dann die nötigen Materialien selbst bezahlen müssen. Es ging dabei um sehr viel Geld. Deshalb nahm ich die Unterstützung jener Stiftung an. Die Stiftung verlangte im Gegenzug, dass ich oder eine mir nahestehende Person Blut spenden solle, womit ich natürlich kein Problem hatte. Die Biopsie ergab ein positives Ergebnis. An dem Abend, als ich das erfuhr, ich war in Begleitung einer Freundin und meiner Schwester, was das ein Schock für mich. Ich habe mir dann aber gesagt, dass das zwar schlecht ausgehen kann, aber dass es auch gut verlaufen kann, und dass es ein Moment ist, wo sich mein Leben ändern muss.
Ich bin dann zu einem privaten Arzt gegangen, einem Spezialisten. Ich habe mich mit meiner Familie im Ausland in Verbindung gesetzt, die ab diesem Moment alle Kosten der zahlreichen Untersuchungen übernommen hat. Alles sehr teuer. Die Krankenversicherung der Uni hätte davon nur einen kleinen Teil übernommen.
Und gab es keine Möglichkeit, das innerhalb des öffentlichen Gesundheitssystems machen zu lassen?
Sehr schwierig. Von den zehn Untersuchungen, die ich machen musste, hätten vielleicht drei in öffentlichen Einrichtungen gemacht werden können. Eventuell vier. Aber die Warteliste von Leuten die darauf warteten war sehr lang, ich hätte vier oder sechs Wochen warten müssen, bis ich dran gekommen wäre. Aber auch in den privaten Einrichtungen, die das machen, waren seinerzeit von zehn, die das eigentlich machen können, nur zwei wirklich in der Lage, wegen den bekannten Problemen mit den Divisen. Als ich die Ergebnisse hatte, empfahlen mir die Ärzte zwei Optionen: Anwendung von Chemotherapie in einem öffentlichen Krankenhaus, oder in einer Privatklinik. Im staatlichen Krankenhaus gab es zu dem Zeitpunkt leider keine Ärtz*innen, die die Behandlung hätten machen können. Und selbst wenn es welche gegeben hätte, wäre ich in eine weitere Warteliste gekommen. Die onkologische Abteilung dort ist zwar sehr effizient, aber dort kommen sehr viel Menschen hin, auch aus den umliegenden Bundesstaaten. Wir haben deshalb beschlossen, mithilfe der finanziellen Unterstützung meiner Familie, es in einer privaten Einrichtung zu machen. Die Medikamente aber, die zur Anwendung der Chemotherapie nötig sind, wurden mir alle vom IVSS (Instituto Venezolano del Seguro Social) umsonst zur Verfügung gestellt. Glücklicherweise hatten sie für meine Art von Krebs alle nötigen Medikamente verfügbar. Gratis.

Um welche Beträge etwa hätte es sich dabei gehandelt?
Um irrwitzige Summen. Wir haben uns ja auch in Kolumbien erkundigt, unter anderem über die Sociedad Anticancerigena, die Medikamente nach Venezuela einführt, und die Summen waren horrend. Während das früher normal war, dass der Staat alle Medikamente zur Verfügung stellte, gab es ein paar Jahre, wo das nicht der Fall war, und erst seit etwa einem Jahr bekommt man im öffentlichen System wieder solche Medikamente.

Hätte es denn Alternativen zur Behandlung mit Chemotherapie gegeben?
Ja, die gab es. Ich hatte Infos über den Dr. Sirio Quintero in Boconó, der mit Hilfe der Nanotechnolgie Krebs behandelt. Und auch über Behandlung mit Naturheilmitteln. Aber ich wollte nichts riskieren. Ich habe auf die Chemo gesetzt, aber unter Zuhilfenahme der Naturmedizin. Um den negativen Effekten der Chemo entgegen zu wirken. Denn deren positiven Effekte sind zwar bekannt, aber die Nebenwirkungen oft nicht so sehr.

Du hast eine Operation erwähnt. Neben der Chemo muss also auch noch operiert werden?
Ja, in meinem Fall schon. Die Ärzte empfehlen, dass die Gegend, wo der Tumor sich befand, immer nachträglich auch untersucht werden soll. An der Stelle, wo sich mein Tumor befand, wurde eine Tätowierung gemacht, die dessen Grösse anzeigt. Er war ca. vier cm gross, jetzt ist er fast völlig verschwunden. Die Behandlung war also 100% positiv. Eineinhalb Monate nach der OP muss ich dann noch eine Radiotherapie machen. Die gesamte “akademische” Behandlung ist also positiv verlaufen. Das Problem ist, dass sekundäre Probleme auftreten können durch den psychischen Zustand, also die Angst. Ich scheine jetzt ganz normal, aber innerlich bin ich zerfressen vor Angst. Neben der eigentlichen Behandlung ist deshalb die psychologische Unterstützung sehr wichtig. Die Meditation war bei mir ausschlaggebend.

Was ist mit der Ernährung während der Behandlung? Gibt es da Veränderungen?
Ja, das empfielt sich. Ideal ist, ganz auf Zucker, Fett, Milchprodukte und raffinierte Mehle zu verzichten. Kein rotes Fleisch mehr. Keinen rohen Salat, weil die Verdauung nach der Chemo arg angeschlagen ist. Eigentlich soll ich vor allem Huhn essen.

Und diesen Wechsel in der Ernährung, konntest du den mithilfe deines Gehalts finanzieren?
Nein, nur mit Hilfe von anderen, von der Familie im Ausland. Ein Huhn kostet derzeit ca. 40000 Bs., und mein Gehalt als Verwaltungsangestelle an der Uni, also die höchste Gehaltsstufe für Angestellte, liegt bei 300000 Bs. Davon kann man das also unmöglich bezahlen. Und für den Erfolg der Behandlung ist eine gute Ernährung unerlässlich.

Gibt es noch andere Kosten, die wir noch nicht erwähnt haben?
Die alternativen Therapien, also die emotionale und psychologische Begleitung, kosten auch was. Aber einiges ist auch umsonst, also was von Freund*innen geleistet wird.

Wird dich die OP was kosten?
Die Operation als solche nicht, aber sie geben dir eine Liste mit den Sachen, die du dafür besorgen musst, also Spritzen, Anästhesie, Medikamente, etc. Aber das finde ich ok, dass die das von mir verlangen. Weisst du, das Gesundheitssystems in Venezuela war eigentlich vollständig umsonst. Früher hat das Krankenhaus bei einer OP alles kostenlos zur Verfügung gestellt. Aber seit ca. zwei, drei Jahren ist das vorbei, davor gab es schon mal das eine oder andere, was an selbst beibringen musste, aber jetzt muss man alles selbst besorgen. Also entweder braucht man sehr viele Freund*innen, die eineN unterstützen, oder so wie ich Angehörige mi Ausland.

Und die Radiotherapie?
Auch das wird meine Familie bezahlen. Das ist das teuerste der ganzen Behandlung.

Und wo wird die stattfinden?
In Caracas, Valencia oder Barquisimeto. Privat. Öffentliche Optionen für Brustkrebs gibt es nicht. Hier in Mérida geht es nicht, weil die Apparate, mit denen das gemacht wurde, kaputt sind. Sowohl im öffentlichen Krankenhaus als auch in der Privatklinik.

Wie machen sowas eigentlich Leute ohne Verwandte im Ausland?
Die Leute verkaufen alles. Goldkettchen, Auto, was es eben so gibt. Also wenn jemand gar keine Hilfe hat, dann kann ich mir gar nicht vorstellen, wie das gehen soll.
Aber zumindest ich habe vom IVSS alle Medikamente bekommen, die ich brauche, und jetzt werde ich auch im Krankenhaus umsonst operiert. Also dafür, dass wir in solch einer Krise stecken, finde ich, dass das öffentliche System eigentlich funktioniert. In meinem Fall als Onkologiepatientin funktioniert das System. In anderen Fällen, Notfällen oder ähnlichem, mag es sein, dass es schwierig ist, aber in meinem Fall funktioniert es.
Und mal abgesehen von allen ökonomischen Aspekten scheint es mir am wichtigsten zu sein, dass man emotional und psychologisch unterstützt wird. Die Liebe ist wichtig. Das ist die beste Medizin.

 

Endnoten

(1) Quelle: https://www.lanacion.com.py/mundo/2018/10/11/migracion-masiva-de-medicos-venezolanos-entre-2012-y-2017/ )
(2) NGO Convite, Bulletin Nr. 27 vom Oktober 2019, http://conviteac.org.ve/escasez-de-medicamentos-en-venezuela-ronda-entre-48-y-79-para-el-mes-de-octubre/ ).
(3) Quelle: https://radiofeyalegrianoticias.com/3-mil-pacientes-de-dialisis-murieron-en-los-últimos-4-anos
(4) Quelle: https://www.encuestanacionaldehospitales.com/2019(5) Bericht UNO Menschenrechtskommission über Venezuela, Juli2019)
(5) Bericht der UNO Menschenrechtskommission über Venezuela, Juli 2019
(6) Quelle: https://www.el-comercio.com/actualidad/medicos-venezolanos-denuncia-agresion-permanente.html
(7) Quelle: https://www.elnacional.com/gobierno/caporale-confirmo-remocion-min-salud_182124/ )

Die “Arbeiterregierung” Maduro: Abgrund zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Ende Juli diesen Jahres hielt das Forum de Sao Paulo, ein Verband von Parteien und Organisationen der lateinamerikanischen Linken, seine 25. Tagung in der venezolanischen Hauptstadt Caracas ab, um Präsident Maduro und der Bolivarianischen Revolution seine Solidarität und Geschlossenheit im Kampf gegen den US-amerikanischen Imperialismus zu bekunden. Die Zusammenkunft endete in der Ratifizierung der Anerkennung der Regierung Maduro als legitime venezolanische Regierung, der Verurteilung der US Sanktionen und der Verkündung einer neuen Etappe im “Kampf um Frieden, Demokratie, Souveränität und Selbstbestimmung”, sowie für den “Erhalt der historisch erkämpften, sozialen Errungenschaften der Völker”.

Wenige Tage vor dieser Veranstaltung hatte sich die als chavistische Dissidenz verstehende Partei UPP89 (1) in einem offenen Brief an die Teilnehmer des Forums mit der Aufforderung gewandt, ihre automatische Solidarität mit der Regierung Maduro auf den Prüfstand zu stellen, einen Blick hinter die versteinerte, pseudo-linke Phraseologie zu werfen und sich auf den Boden der von der venezolanischen Bevölkerung täglich erlittenen Realität zu begeben. Nur so sei herauszufinden, wie durchaus hausgemacht die venezolanische Krise sei. Eine kritische Einschätzung der ursprünglichen Ziele und Methoden im Unterschied zum tatsächlichen Abschneiden der Regierung in puncto revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft und soziales Wohlergehen sei dringend vonnöten; ebenso wie das Neuüberdenken der eigenen Ansätze und Prinzipien, um nicht der in ein autoritäres, repressives Regime degenerierten Regierung Maduro einen Schein von Legitimität zu verleihen, die sie längst verloren habe.

In ihrer “Kritik der Bolivarianischen Revolution von Seiten der venezolanischen Linken” stellt sich die UPP89 als eine politische Ausdrucksform der venezolanischen Linken vor, welche die angeblich linke oder sozial fortschrittliche Ausrichtung der Regierung Maduro kategorisch verneint und sich in aller Schärfe von dieser abgrenzt. Maduro und die herrschende Nomenklatur hätten eine Ausbeutungsstruktur geschaffen, die der kapitalistischen oder gar feudalistischen sehr nahe käme und denselben Mustern folgen würde. (2)

In ähnlichem Sinne drücken sich ehemalige, zu Dissidenten gewordene Minister und Politiker aus der eigentlichen Chávez-Ära aus, wenn sie auf den Schaden hinweisen, den die Regierung Maduro mit ihrem Abfallen von einer sozial fortschrittlichen Politik und ihrem Umschwenken auf Strategien und Rezepte aus dem Spektrum der politischen Rechten, den Organisationen der Linken in Lateinamerika und weltweit, sowie der sozialistischen Idee als solcher zugefügt habe. Venezuela sei zum neuen Referenzpunkt und abschreckenden Beispiel in der Region geworden, was mit einer Gesellschaft passiere, wenn man den “Sozialismus” einführe. (3)

Ohne den Impakt übersehen zu wollen, den die jüngsten US-Sanktionen auf die venezolanische Wirtschaft und das tägliche Überleben der Bevölkerung haben (deren Hintergründe und Auswirkungen in diesem Beitrag jedoch nicht erörtert werden sollen), soll das Augenmerk vielmehr auf die oben erwähnte Ausbeutungsstruktur gerichtet werden, deren Erhalt sich sowohl auf die Schaffung materieller Abhängigkeiten in Gestalt von Lebensmittelpaketen, Sozialprogrammen und Finanzboni für Inhaber des “Vaterlandsausweises”, als auch auf offene Unterdrückung, Abschreckung und der konsequenten Durchführung einer Art von staatlich gelenktem “Justizterrorismus” stützt. Augenscheinliches Ziel dabei ist die Bewahrung der öffentlichen Ruhe und Ordnung inmitten der anhaltenden Krise durch präventive Aufstandsbekämpfung im Dienste der Machterhaltung der Regierung. Der psychopolitische Effekt, der damit in grossen Teilen der Bevölkerung erzeugt wird, drückt sich in einer Kombination von zurückgehaltener Wut, notgedrungener Konformität, Passivität, Demotivation und Resignation aus.


Arbeiterfreundliche Regierung?

Die Regierung Maduro brüstet sich ein ums andere Mal, eine arbeiterfreundliche Regierung zu sein. Eine Art “Mindestmaßstab”, ob eine Regierung “sozial fortschrittlich”, arbeiterfreundlich und politisch links orientiert ist, sollte das Wohlergehen der arbeitenden Bevölkerung sein mit dem Anspruch, allen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, soziale Ungleichheit auf ein Minimum zu verringern, Hunger und Armut auszulöschen und den Zugang zu elementaren Gütern und Dienstleistungen wie Nahrung, Wohnung, Gesundheit, Bildung, Wasser, Elektrizität, Transport, Information und Kommunikation zu gewährleisten. In den Worten des Artikels 91 der Verfassung der Bolivarianischen Republik Venezuela von 1999: “Jeder Arbeiter und jede Arbeiterin hat das Recht auf eine ausreichende Vergütung die ihm/ihr erlaubt, mit Würde zu leben und für sich und seine/ihre Familie die materiellen, sozialen und intelektuellen Grundbedürfnisse zu befriedigen. … Der Staat garantiert den Arbeitern und Arbeiterinnen des öffentlichen und privaten Sektors einen lebenserhaltenden Mindestlohn, der jährlich angepasst wird, wobei einer der Bezugspunkte der Preis des einfachen Warenkorbs darstellt.” Der Inhalt dieses grundlegenden Artikels ist längst zur fernen Utopie geworden. Das Dokumentations- und Analysezentrum für Arbeiter CENDA (Centro de Documentación y Análisis para los Trabajadores) hat ermittelt, dass der Preis allein des Nahrungsmittel-Warenkorbs für den Monat Juli 2019 einundvierzig Mindestlöhnen entsprach: “Der Nahrungsmittelkorb für eine (fünfköpfige) Familie kostete im Juli 1.649.360,75 Bolivares (Bs). … Der sich auf 40.000 Bs belaufende Mindestlohn, gültig seit dem 16. April 2019, hatte im Juli lediglich eine Kaufkraft von 2,4% des Wertes des familiären Nahrungsmittelkorbs. … Eine Familie benötigt 41 Mindestlöhne, nur um ihre elementaren Bedürfnisse in Ernährungsfragen zu decken.” (4)

Am 20. August ist der Mindestlohn in Venezuela laut offiziellem Wechselkurs auf einen historischen Tiefpunkt gesunken und beträgt nur noch 2,76 US Dollar im Monat (der Nahrungsmittelkorb liegt dagegen umgerechnet bei knappen 114 Dollar monatlich). Damit sind venezolanische Lohnabhängige weit unter die von den Vereinten Nationen definierte Schwelle der extremen Armut gesunken, die bei 1,25 Dollar Tageseinkommen liegt. Das heisst, der Wert der Arbeitskraft in Venezuela liegt nicht nur unermesslich weit unterhalb der Grenze ihrer physischen Reproduktion, sondern Arbeiter in Venezuela fristen faktisch ein Dasein ohne Einkommen und hängen in ihrem Überleben von Zuwendungen der Regierung bzw. von finanziellen Zuschüssen ab, die ihnen ausgewanderte Familienangehörige schicken. Die Zahl der seit 2015 ausgewanderten Venezolaner liegt laut der UNHCR inzwischen bei vier Millionen und der Gesamtbetrag der aus dem Ausland gesandten, finanziellen Unterstützung für zurückgebliebene Familien könnte mit geschätzten zwei bis drei Milliarden Dollar im laufenden Jahr sogar den durch nicht traditionelle Exporte erwirtschafteten Betrag übersteigen. (5)

Noch vor einem Jahr betrug der Mindestlohn im Rahmen der Einführung des “Programms für die Erholung, das Wachstum und den Wohlstand der Wirtschaft” dreißig Dollar oder ½ Petro – die unbedeutende, an den Weltmarktpreis für Erdöl gekoppelte, venezolanische “Kryptowährung”, die der Dreh- und Angelpunkt der Inflationsbekämpfung sein sollte. Der Mindestlohn wurde auf einen halben Petro festgesetzt, wobei ein (1) Petro dem Marktwert eines Barrels Öl entspricht. Danach gemessen sollte das Mindesteinkommen heute bei etwa 29 Dollar oder 430000 Bolívares liegen (auch wenn damit so gut wie nichts gewonnen wäre). Doch die Regierung verfährt mit dem Petro nach einem Doppelmaßstab und hat ihn in einen “Stablecoin” (am Erdölpreis verankerter Wert) und eine Verrechnungseinheit (mit festgelegtem Kurs) unterteilt. Der Wert letzterer liegt derzeit bei 80000 Bs (= 5,5 Dollar) und gilt als Maßstab zur Berechnung des Mindesteinkommens (= ½ Petro) und als Einheit der Steuererhebung.

Der Gewerkschafter und Bundesvorsitzende der Partei Sozialismus und Freiheit (PSL – Partido Socialismo y Libertad), Orlando Chirino, bezeichnet den vor exakt einem Jahr in Kraft getretenen “Wirtschaftsrettungsplan” von Präsident Maduro als ein neoliberales Massnahmenpaket, was die gesamte Last der durch eine jahrelange, verfehlte Wirtschafts- und Finanzpolitik entstandenen Krise auf die Schultern der arbeitenden Bevölkerung abwälzt. Im Zuge der Währungsreform sind ohne Rücksprache bzw. Verhandlung mit den Arbeitnehmern ein neuer Wert des nationalen Mindestlohns (=1/2 Petro) sowie neue Lohntabellen für Verwaltungsangestellte im öffentlichen Sektor eingeführt worden. Mit dem Inkrafttreten am 11. Oktober 2018 des vom Volksministerium für Arbeit verfassten und von Maduro abgesegneten Memorandums Nr. 2792 kam dann der Rundschlag gegen die Rechte der Arbeiter im öffentlichen und privaten Sektor: Mit dem Argument, die Mindestlohnerhöhung vom 20. August 2018 sei – da eingebettet in ein komplexes Wirtschafts-rettungsprogramm – von „integraler Art“, wurden die in sämtlichen Arbeits- und Tarifverträgen festgelegten Bestimmungen als jederzeit revisionsfähig erklärt und damit zu unverbindlichen Richtlinien degradiert, um “die gerechte Verteilung des Reichtums unter den Arbeitnehmern” zu garantieren und die “grossen, wirtschaftlichen Unterschiede, die die Existenz von privilegierten Gruppen unter den Arbeitern und Arbeiterinnen gefördert haben” zu korrigieren.

In anderen Worten: Der “sozialistischen” Regierung Maduro geht es nicht darum, die grossen wirtschaftlichen Unterschiede zwischen Unternehmern und Arbeitern, oder zwischen privilegierten, hohen Staatsbürokraten und einfachen Angestellten, oder zwischen einer korrupten, milliardenschweren Wirtschafts-und Finanzelite und der 2,76 Dollar im Monat verdiendenden, notleidenden Bevölkerung zu korrigieren, sondern es geht ihr darum, die Löhne nach unten zu nivellieren. Alle vor dem Wirtschaftsrettungsprogramm erkämpften Rechte und Ansprüche der Arbeiter können fortan nach unten revidiert oder auch ganz eliminiert werden, falls sie das Bestehen des Arbeitgebers gefährden(!). Die Beschneidung der Arbeiterrechte lässt die Regierung unbekümmert, “da im neuen integralen Mindestlohn das Prinzip der Einkommensprogressivität total garantiert” sei. (6)

In der Einschätzung Orlando Chirino´s: „Mit diesem brutalen Paket, dessen schlimmster Ausdruck das Memorandum 2792 ist, beabsichtigt die Regierung Maduro den allgemeinen Begriff des Lohns und der kollektiven Arbeitsverhandlungen endgültig auszuradieren. Es wird versucht, den Lohn einseitig festzulegen, ohne dass die Verhandlungen zwischen den Seiten -Arbeitgeber und Arbeitnehmer- ins Spiel kommen, womit den Tatsachen nach der Existenzgrund der Gewerkschaften annulliert wird. Ebenso wie den in Geld ausbezahlten Lohn durch das zu ersetzen, was die Regierung „Soziallohn“ nennt und was nichts anderes ist, als die Arbeiter in Naturalien zu entlohnen.“ (7) – Ein zweifelsohne feudalistischer Aspekt der von der UPP89 eingangs erwähnten, herrschenden Ausbeutungsstruktur.

Soziale Proteste
Die sozialen Proteste in Venezuela nehmen von Jahr zu Jahr zu. Angaben des Venezolanischen Observatoriums für soziale Konfliktivität (Observatorio Venezolano de Conflictividad Social OVCS) zufolge gab es allein in den ersten drei Monaten diesen Jahres 6211 Proteste im ganzen Land, wovon 51% die Einforderung der wirtschaftlichen und sozialen Rechte zum Gegenstand hatten. Das OVCS registrierte 2820 Strassenaktionen (im Durchschnitt 31 Proteste täglich) zur Einforderung des verfassungsmäßig verankerten Rechts auf politische Mitwirkung. In Bürgerversammlungen, Demonstrationen, Lärmprotesten durch Töpfeschlagen und Strassensperren machten sich die Beteiligten ihrem Unmut mit der Zielsetzung Luft, einen Wechsel der Regierung und der herrschenden Wirtschaftspolitik zu erreichen. 1668 Proteste (im Durchschnitt 19 täglich) verdankten sich der prekären Situation und dem teilweisen Kollaps der öffentlichen Diensleistungen im allgemeinen. 1032 Proteste ereigneten sich speziell anläßlich des Zerfalls des nationalen Elektrizitätssystems, welcher Handel und Gewerbe, den Betrieb in den verschiedenen Bildungsanstalten des Landes, das Funktionieren des Gesundheitswesens und das Alltagsleben als solches schwer beeinträchtigt. Was die Einforderung der Rechte der Arbeiter und Lohnabhängigen betrifft, so wurden 1125 Proteste registriert (im Durchschnitt 13 pro Tag), welche den Schutz der Löhne angesichts der anhaltenden Hyperinflation sowie den Rücktritt der Regierung Maduro forderten. (8)


Reaktion der Regierung auf die sozialen Proteste

Die Regierung reagiert auf die Proteste mit offener Repression und einer Strategie von Abschreckung durch Angsterzeugung. Die ausführenden Organe der Repression vor Ort sind die Guardia Nacional Bolivariana (GNB), die Policía Nacional Bolivariana (PNB), die Fuerzas de Acciones Especiales (FAES) und der Inlandsgeheimdienst SEBIN. Die „juristische Kriegsführung“ – die Instrumentalisierung der Justiz zum Zwecke der Ausschaltung politischer Gegner – wird von der Regierung in staatsterroristischer Manier betrieben, indem Arbeiter, Gewerkschafter, Politiker, Kritiker und Aktivisten – sowohl aus der politischen Opposition sowie erst recht aus dem Lager der chavistischen Dissidenz – systematisch diffamiert, bedrängt, inhaftiert und zum Teil gefoltert und umgebracht werden. Die Anklage lautet meist pauschal: Terrorismus, Hochverrat, Verschwörung, Aufstachelung der Öffentlichkeit zum Hass. Viele Betroffene fliehen schon in der Diffamierungsphase ins Ausland, um sich in Sicherheit zu bringen. Emblematisch für die „Neutralisierung“ von unliebsamen Gewerkschafter*innen ist der Fall von Rúben González, Generalsekretär der Arbeitergewerkschaft CVG-Ferrominera del Orinoco (venezolanische Schwerindustrie), der am 30. November 2018 im Zusammenhang mit Protesten und Kundgebungen für die Einhaltung der Tarifverträge und Lohntabellen festgenommen und von einem Militärgericht zu fast 6 Jahren Haft verurteilt wurde. González war schon 2009, noch unter der Regierung Chávez, wegen Anführung eines Streiks in Ferrominera festgenommen und erst 2011, nach zweijähriger Inhaftierung, zu siebeneinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden. Nur dank massiver Mobilisierungen und Proteststreiks in der gesamten Schwerindustriebranche musste der Urteilsspruch annulliert werden.

Ist das eine Regierung der Arbeiter*innen?
Dass die Regierung Venezuelas von einem Arbeiter angeführt wird, ist ein Punkt, der Respekt abverlangt. Es spricht eigentlich für die Ernsthaftigkeit, mit der hergebrachten Ordnung zu brechen und sozialistisches Denken umzusetzen, dass es in der bolivarianischen Revolution möglich war, dass ein einfacher Gewerkschafter es bis an die Spitze des Staates schafft. Aber ein presidente obrero, also ein Arbeiter als Präsident, macht leider noch keine Regierung FÜR die Arbeiter*innen aus. Ganz im Gegenteil: Von der gegenwärtigen Situation profitieren nur Leute, die selbst nicht arbeiten, von Spekulanten und Militärs bis hin zu unbeschäftigten Slumberwohner*innen, die von Nahrungsmittelkisten und Almosen leben. Diejenigen, die von der „Arbeiterregierung“ definitiv nur Nachteile haben, sind diejenigen, die zu ihrem Überleben ihre Arbeitskraft verkaufen müssen.

In den meisten Fällen reicht der Lohn gerade aus, um den Transport zum Arbeitsplatz und zurück zu bezahlen, und genügt nicht einmal für das Essen, also die Wiederherstellung der Arbeitskraft. Damit liegt die Lohnarbeit in Venezuela noch unterhalb der Sklavenarbeit, die ja immerhin die Ernährung des Sklaven gewährleistet.
Orthodoxe Linke in aller Welt machen dafür gerne den „Wirtschaftskrieg“ und die US-Sanktionen verantwortlich. Dieser Argumentation zufolge handelt es sich beim venezolanischen Modell des Sozialismus um ein Projekt, das ohne die permanenten Angriffe seiner Gegner durchaus viabel wäre und den Arbeiter*innen einen vorbildlichen Lebensstandard garantieren könnte. Viel ist an dieser These aber nicht dran. Die kriminellen Wirtschaftssanktionen von Trump, die auf ein Aushungern der Bevölkerung zielen, sind erst seit kurzem in Kraft, während die Krise aber schon mehr als sechs Jahre dauert. Sie können also kaum die Ursache des Debakels sein. Die famose „guerra económica“ aber, also der angebliche Krieg der Kapitalisten gegen ein linkes Projekt, ist in erster Linie ein Krieg unfähiger Administratoren gegen die eigene Wirtschaft. Auch wenn es richtig ist, dass die Unternehmer im Land und die westlichen Mächte der bolivarianischen Revolution Steine in den Weg legen, wo sie nur können, so sind alle wesentlichen Probleme des Landes, also Inflation, Korruption, Rückgang der Produktion und völlige Abhängigkeit von Importen, Resultat einer desaströsen Politik, die sich einen gewaltig aufgeblähten Staatsapparat leistet und alle Finanzierungsmöglickeiten ausser dem Export von Rohstoffen systematisch vernachlässigt und sabotiert hat. Und den Verfall der Erdölpreise kann man schliesslich schlecht den bösen Absichten der Imperialisten gegenüber Venezuela zuschreiben.

Es bleibt die Frage, inwieweit es sich bei der venezolanischen Revolution überhaupt um ein linkes Projekt handelt. Wenn die traditionellen Kernanliegen linker Politik, also soziale Gleichheit, Ernährungssicherheit, Gesundheitsversorgung, Erziehung und Umweltschutz so systematisch verschlechtert wurden, wie es in den zwei Jahrzehnten des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ geschehen ist, womit kann ein angeblich sozialistischer Staat seine repressive Politik gegenüber seinen Schutzbefohlenen dann noch rechtfertigen? Der Erhalt der eigenen Macht als Selbstzweck ist jedenfalls keine linke Idee. Es ist in den Industrienationen schon seit jeher beliebt, dass Linke, die bei der Umwälzung der Verhältnisse im eigenen Land keine nennenswerte Erfolge erzielen können, hoffnungsfroh auf fortschrittliche Projekte im globalen Süden schauen. Das mag verständlich sein, hat aber auch eine unappetitliche Seite, wenn im Hinblick auf angebliche Verbesserungen im projektierten, gelobten Land die Unterdrückung der fundamentalsten Rechte dort legitimiert wird. Am Beispiel Venezuela sticht das besonders ins Auge. Blind wird hier von den Linken anderer Breitengrade die Solidarität mit einem Regime hochgehalten, bei dem das einzige, das noch an Sozialismus erinnert, der Name ist. Es wäre an der Zeit für diese Leute, sich auf die ursprünglichen Werte der Solidarität zu besinnen und zu denen zu stehen, die hier tatsächlich für die Arbeiterrechte kämpfen: die Arbeiter*innen selbst.

Endnoten
(1) Unidad Política Popular 89 ist eine 2016 eingetragene.Partei linker Ausrichtung. Die Zahl 89 verweist auf das Schlüsseldatum des 27. Februar 1989, Tag des Volksaufstands oder „Caracazo“, in dessen Verlauf hunderte von Menschen zu Tode kamen und der den Beginn der „Bolivarianischen Revolution“ markiert. Parteivorsitz ist der Ingenieur und ehemalige Kandidat in den Präsidentschaftswahlen 2018, Reinaldo Quijada.
(2) Titel des Briefs an die Abgeordneten des Forums von Sao Paulo / Caracas 25.-28. Juli 2019
(3) Rafael Ramírez, Juan Barreto, Hector Navarro, um nur einige wenige zu nennen.
(4) https://twitter.com/Cenda_Info/status/1162695571930570753?ref_src=twsrc%5Etfw
(5) Zahlen laut Einschätzung von Ökonom José Guerra, Abgeordneter des venezolanischen Parlaments und Vorsitzender der Finanzkommission, der sich wegen politischer Verfolgung seit kurzem in Kolumbien im Exil befindet und die Arbeitsverhältnisse bzw. Gratisarbeit in Venezuela als eine neue Form der Sklaverei bezeichnet. In: Noticiero Digital vom 16. Mai 2019; (www.noticierodigital.com/2019/05/preven-remesas-cierren-2019-al-menos-2-000-millones/).
(6) Zitatfragmente aus: Memorandum 2792
(7) Orlando Chirino: „Nach einem Jahr des Wirtschaftserholungs-, Wachstums- und Wohlstandsprogramms: Nur Misere für die Arbeiter“; Erklärung vom 20.08.2019, veröffentlicht auf: www.laclaseinfo.com
(8) Vgl.: www.observatoriodeconflictos.org.ve/tendencias-de-la-conflictividad/6-211-protestas-en-venezuela-durante-el-primer-trimestre-de-2019/amp

Erster Mai, die Rechten sind dabei

Der versuchte Putsch vom 30. April gegen Maduro schien nach einem Drehbuch von Monthy Python ausgeführt. Bis zum Nachmittag konnten wir nicht glauben, dass diese verzweifelt – dilettantische Aktion alles gewesen sollte. Da musste doch noch ein Plan B folgen! Das As aus dem Ärmel, das die aussichtslose Situation in einen triumphalen Sieg umwandeln würde. Aber nein, das war´s. Eine Gruppe rebellierender Soldaten unter dem Kommando eines Generals aus dem engeren Sicherheitsring Maduro´s und ehemaliger Kampfgefährte von Chávez hatte rebelliert, den unter Hausarrest stehenden Rechtsaussenpolitiker Leopoldo López daheim abgeholt und zusammen mit dem selbsternannten „Interimspräsidenten“ Guaidó und einer Handvoll anderer Abgeordneter und Unterstützer*innen einen Autobahnverteiler neben dem Luftwaffenstützpunkt „La Carlota“ mitten in Caracas besetzt. Da standen sie nun, liessen sich stundenlang mit Tränengas einnebeln und warteten offensichtlch darauf, dass die aufständischen Massen zuhauf herbeiströmen würden, ihren „Befreier“ zu befreien. Vielleicht war die Idee, das eroberte Gebiet bis zum nächsten Tag zu halten, um sie mit Guaidó´s Mobilisierung der Opposition zum ersten Mai zusammenzuführen. Doch die Massen blieben weitgehend zuhause. Bis auf einige wenige Hartnäckige, die sich im ganzen Land versammelten und eher symbolische als ernstgemeinte Barrikaden bauten, blieb es ruhig. Am Ende suchten die gescheiterten Putschisten Zuflucht in den Botschaften von Chile und Brasilien. Die erwartete Grossdemo der Opposition, die mit dem Slogan angetreten war, den Präsidentschaftspalast zu stürmen, blieb überschaubar und endete in Scharmützeln in einem Reichenviertel. Eine Niederlage auf allen Ebenen.

Wir, die leidenschaftslosen Zuschauer*innen, die zwar vom mafiös-militaristischen „Sozialismus“ gestrichen die Schnauze voll haben, aber auch gar keine Lust darauf haben, von der radikalen Rechten unter Anleitung der USA „befreit“ zu werden, fragen uns natürlich: Was war das denn jetzt? Sind die wirklich so doof? Sind sie, wie auch der Chavismus, so dermassen ihrer selbstkonstruierten Scheinrealität aufgesessen, dass sie sich eingeredet haben, das apathische Volk würde sich auf ihr Zeichen hin erheben? Die Taktik des gewaltsamen Aufstands der Mittelschicht, in Venezuela „Guarimba“ genannt, war schon drei mal gescheitert. Was hatte López dazu gebracht zu denken, dass sie heute, wo ausserdem ein wesentlicher Teil ihrer früheren Aktivist*innen im Ausland ist, funktionieren könnte? Hatte er es vielleicht schlicht nicht mehr ausgehalten, dass der Emporkömmling Guaidó, der ihm früher die Korrespondenz erledigte, in den letzten Monaten alle mediale Aufmerksamkeit einheimste? Warum gab es für das Überlaufen eines hochrangigen chavistischen Mitkämpfers der ersten Stunde keine bessere Idee, als ihn auf einer Autobahnbrücke zu verheizen?

Wir kennen Leute, die meinen, all die gescheiterten Putsch- und Attentatsversuche, Guarimbas und Invasionsandrohungen seien von der Regierung selbst orchestriert, um eine permanente Stimmung der Bedrohung zu erzeugen, die die eigenen Reihen zusammenschweisst. Diese Theorie klingt logisch. Es ist offensichtlich, dass der Chavismus nur dank der Opposition nach wie vor an der Macht ist, trotz seiner erschütternden solzialen Bilanz. Aber es ist trotzdem eine Verschwörungstherie. Die nötige Intelligenz für solch intrigante Machenschaften ist schlicht nicht vorhanden. Die Wahrheit lautet: Die venezolanische Opposition ist tatsächlich so unfähig, wie es aussieht. Machtgierig, korrupt, zerstritten, verblendet von ihrer selbst konstruierten Fake-Reality, sind die Führer*innen des Antichavismus nicht in der Lage, eine kohärente Strategie zu entwerfen und auszuführen, um die objektiv zu ihren Gunsten stehenden Verhältnisse politisch zu nutzen. Vor allem aber haben sie die einfache, aber entscheidende Prämisse bisher nicht begriffen, dass nämlich der Chavismus nur mit Hilfe der entäuschten Chavist*innen zu entmachten ist, derjenigen Menschen also, die in ihm einst eine Hoffnung gesehen haben, um ihrer sozialen Misere zu entkommen. Nach wie vor gibt es keine politische Kraft, die diese Masse einbinden und organisieren will. Die wenigen Politiker, selbt ehemalige chavistische Funktionäre, die das Profil dazu hätten, sitzen im Knast. Die anderen warten weiterhin auf den Einmarsch der USA oder setzen, wie López, auf die Illusion einer militanten Machtergreifung durch die ökonomisch Bessergestellten.

Ein positives Ergebnis hinterlässt uns dieser Erste Mai der Rechten auf jeden Fall: Leopoldo López, Juan Guaidó und ihre Partei „Voluntad Popular“ sind weg vom Fenster. López war die gefährlichste Figur der Opposition, denn wegen seiner Radikalität und seinem Opferstatus als politischem Gefangenen war er sehr populär. Sein Pulver ist jetzt verschossen, ebenso das von Guaidó. Die Opposition muss sich nach neuen Gesichtern umsehen. Das gibt Raum für andere Optionen, die dann möglicherweise eher aus der politischen Mitte kommen als vom rechten Rand. Nach dem grossen Guaidó-Hype dürfte auf den internationalen Anti-Maduro-Front wieder etwas Ernüchterung einkehren. Vielleicht verbessert das die Optionen für reale Verhandlungen mit dem Ziel einer unblutigen Lösung des Konflikts.

Kein Strom, kein Essen, kein Gas und kein Benzin: Décroissance in Venezuela

Die Hunger Games
Medialer Krieg ist auch nicht mehr das, was er einmal war. Wochenlang hatte die internationale Presse den Showdown zwischen dem „Tyrannen Maduro“ und dem „Befreier Guaidó“ hochgepeitscht. Es ging buchstäblich um die Errettung eines Volkes vorm Verhungern. Juan Guaidó, ein junger Abgeordneter der rechten Partei „Voluntad Popular“, der sich in einer fragwürdigen Interpretation der Verfassung und ganz offensichtlich auf Betreiben der USA zum Übergangspräsidenten ausgerufen hatte, wollte in einer grossen medialen Aktion Tonnen von Hilfsgütern ins Land bringen, gegen den Willen der Regierung, der darauf keine andere Antwort einfiel, als zu behaupten, die Versorgungslage im Land sei vorbildlich, und also die Transporte gewaltsam zu verhindern. Der ersehnte Erfolg des Spektakels wollte sich aber nicht so recht einstellen. Zwar war die Aktion für die Opposition insofern erfolgreich, als der Chavismus weltweit wieder mal als das enlarvt werden konnte, was er ist: ein Haufen entseelter Bürokraten, denen der Erhalt ihrer Macht wichtiger ist als die Hilfe für die Bevölkerung, zu deren Schutz sie doch eigentlich angetreten waren. Auch nutzten rund 60 venezolanische Sicherheitskräfte die Gelegenheit, um sich von ihren Truppen abzusetzen. Aber das eigentliche Ziel der Aktion, nämlich ein massenhaftes Überschreiten der Grenze durch Zivilisten und in der Folge ein allgemeines Überlaufen der Soldaten, das den Anfang des Endes des Chavismus einläuten sollte, fand nicht statt. Weil die ganz grossen medial verwertbaren Bilder sich partout nicht einstellen wollten, gingen ein paar übereifrige Aktivist*innen der Opposition sogar so weit, einen der Lastwagen mit Hilfsgütern anzuzünden, um die venezolanischen Truppen dieser Untat bezichtigen zu können. Nach dem Motto „irgend was bleibt immer hängen“ kolportierten Guaidó und seine internationalen Handlanger*innen sofort den Fake, ohne Rücksicht darauf, dass auf Fotos klar zu sehen war, dass der fragliche Lastwagen weit von den venezolanischen Soldaten entfernt auf kolumbianischem Boden abgefackelt wurde.
Nach dem Spektakel ist die Luft erst mal raus. Maduro ist weiterhin im Amt, und Guaidó tourt durchs Land, um seine Basis zu motivieren. Währendessen betritt ein neuer Aktor die Bühne: der „elektrische Krieg“.

„Apagón“
In den späten Nachmittagsstunden des 7. März fiel in ganz Venezuela der Strom aus. Niemand ahnte, dass dem Land der längste und verheerendste Blackout seiner Geschichte bevorstehen würde. Für 5 ewig scheinende Tage und Nächte hatten der grösste Teil der venezolanischen Bevölkerung keinen Strom, und viele auch kein Wasser wegen des Ausfalls der elektrischen Pumpsysteme. Es herrschte totale Funkstille; die Telekommunikation sowie die Übertragung in Radio und Fernsehen waren komplett ausgefallen und die wenigen, prekären Informationen über das ebenso im Dunklen liegende Zeitgeschehen und dessen möglichen Ursachen wurden praktisch von Mund zu Mund weitergegeben. Der private und öffentliche Verkehr kam fast vollständig zum Erliegen, da nur wenige Tankstellen des Landes über funktionale Notstromaggregate verfügen, und wo dies der Fall war, ging in Kürze das Benzin aus, weil die Reserven in den Depots nicht für die hunderten von Fahrzeugen ausreichten, die davor kilometerlange Schlangen bildeten. In vielen Krankenhäusern starben Patienten wegen fehlender Stromversorgung. In den Kühlschränken und Gefriertruhen verdarben die Lebensmittel; manche Geschäfte verschenkten bereits halb verdorbene Fleisch- und Milchprodukte an ihre Kunden. Die Verluste bei Produktion, Lagerung und Handel von nicht haltbaren Lebensmitteln beliefen sich auf riesige Summen. Ab dem dritten Tag des Stromausfalls musste die Regierung Maduro an zwei aufeinanderfolgenden Tagen arbeitsfreie Tage ausrufen, da das öffentliche Leben komplett zum Stillstand gekommen war. Der Ökonom Asdrubal Oliveros bezifferte den entstandenen Schaden nach vier Tagen Stromausfall auf 875 Millionen Dollar oder ein Prozent des Bruttoinlandprodukts.

Abgesehen von propagandistischen Medienauftritten, in denen als Ursache für den katastrophalen Stromausfall ein Cyberangriff bzw. „elektrischer Krieg“ der USA gegen Venezuela genannt wurde, glänzten Staatschef Maduro und sein Kabinett durch Abwesenheit, einschliesslich des Ministers für elektrische Energie, Luis Motta Dominguez, ein General der venezolanischen Nationalgarde ohne Kompetenz oder Erfahrung auf diesem Gebiet. Es gab keinerlei Kontingenzpläne der Regierung, um die Bevölkerung in der Notlage mit entsprechender Logistik zu unterstützen, und sollte es sie gegeben haben, so wurden sie nicht ausgeführt. Die Bevölkerung tappte, was die exakten Ursachen, den entstandenen Schaden an der Infrastruktur, die geschätzte Dauer und das Ausmass des Blackouts betraf, buchstäblich im Dunkeln, was Gerüchten, Angst und Unsicherheit Tür und Tor öffnete. Der bargeldlose Zahlungsverkehr, ohne den in Venezuela wegen des chronischen Bargeldmangels kaum etwas zu kaufen ist, fiel aus, da nur wenige Geschäfte über ihr privates Notstromaggregat verfügen, und das für Bankabrechnungen und – überweisungen unerlässliche Internet nicht funktionierte. Ohne Strom, Wasser, Kochgas, Transport und Kommunikation und fast ohne Einkaufsmöglichkeit – skrupellose Einzelhändler und Wucherer nutzten die Notlage, um exorbitante Preise für ihre Waren zu verlangen – schuf sich vielerorts die Wut und Ohnmacht der Menschen über Proteste und Plünderungen ein Ventil. Im heissen Bundesstaat Zulia wurde für Eiswürfelbeutel, die zur notdürftigen Kühlung von verderblichen Lebensmitteln benutzt wurden, satte zehn Dollar verlangt.

Arbeiter, Ingenieure und Techniker der nationalen Elektrizitätsgesellschaft Corpoelec haben in der Vergangenheit immer wieder vor einem bevorstehenden Zusammenbruch des elektrischen Systems in Venezela gewarnt und sind dafür diffamiert, entlassen und einige sogar inhaftiert worden, wie der am 14. Februar 2018 vom Geheimdienst SEBIN im Bundesstaat Carabobo festgenommene, im Dienst von Corpoelec arbeitende Ingenieur und Gewerkschaftsführer Elio Palacios, welcher wiederholt den kritischen Zustand der elektrischen Infrastuktur dort denunziert, vor ihrem bevorstehenden Kollaps gewarnt und als Gründe fehlende Wartung und Korruption genannt hatte.

Wegen seiner strategischen Bedeutung für die nationale Sicherheit war der Elektrizitäts-Sektor noch unter Chávez längst auf einen Notfall oder „Angriff von aussen“ vorbereitet worden, indem neue, thermoelektrische Stromerzeugungskomponenten in das Nationale Elektrizitätssystem (SEN) integriert worden waren, womit die Abhängigkeit des Grossteils des Landes von der Stromerzeugung des Guri Staudamms etwas vermindert werden sollte. Diese thermoelektrischen Stromgeneratoren sind jedoch inzwischen mehrheitlich unbrauchbar, was grösstenteils auf ihre minderwertige technische Qualität zurückzuführen ist, alldieweil sie im Zuge der Korruption ohne öffentliche Ausschreibung von ausländischen Firmen zweifelhafter Kompetenz völlig überteuert importiert worden waren. Hinzu kamen später mangelnde Wartung wegen fehlender Ersatzteile, die heimliche, schleichende Demontage der Generatoren und der Verkauf ihrer Einzelkomponenten, und sogar fehlender Treibstoff für ihren Betrieb. Bezeichnenderweise hat die Regierung Maduro keine offizielle Erklärung dafür geliefert, wieso die thermoelektrischen Anlagen, die in Engpässen oder Notfällen einzuspringen haben, nicht funktionieren. So auch auf dem Flughafen Maiquetía von Caracas, der trotz eines gewaltigen Notfallaggregats tagelang ohne Strom war.

Laut einer Untersuchung von Ingenieuren der Universidad Central de Venezuela und Technikern der Nationalen Elektrizitätsgesellschaft lag die Ursache des Stromausfalls bei einem Brand der Vegetation in der unmittelbaren Nähe des Guri Kraftwerks, der sich schon am Tag vor dem Stromausfall entzündet hatte und welcher drei Hochspannungsleitungen überhitzte. Es kam zur Überlastung bis hin zur vorübergehenden Abschaltung der Turbinen. Mehrmalige Versuche, das System wieder hochzufahren, misslangen und führten schliesslich zu einer Explosion in einer nahegelegenen Umspannstation mit weiteren, schweren Schäden.

Es ist bemerkenswert, dass ein fünf Tage und vier Nächte währender Stromausfall praktisch im ganzen Land, einschliesslich der Millionenhauptstadt, welche in den vergangenen Jahren von den schlimmsten Stromausfällen durch eine Umverteilung von Kapazitäten zu Lasten der Provinz weitgehend verschont geblieben war, nicht zur Destabilisierung der Regierung oder gar ihrem Sturz geführt hat. Ausser vereinzelten Plünderungen von Märkten blieb es im grossen und ganzen ruhig.

Am 25 März brach das das Stromnetz schon wieder zusammen, bis zur Stunde ist die Stromversorgung im Land nicht wieder völlig hergestellt. Aber dieses mal beugte die Regierung vor: praktisch jede Strassenkreuzung in den betroffenen Städten ist von Militärs besetzt. Auch wenn es auch diesmal an jeglicher Unterstützung der betroffenen Bevölkerung, etwa durch Ausgabe von Wasser und unverderblichen Lebensmitteln fehlt, scheint die Regierung wenigstens einem potenziellen Aufstand vorbeugen zu wollen.

The Hunger Games, reloaded

Eins muss man der Opposition ja lassen: Die Idee, die Mobilisierungen im Land nicht an der Absetzung Maduros auszurichten, sondern an der Forderung, Hilfsgüter ins Land zu lassen, ist – ausnahmsweise – intelligent. Egal, wen man fragt, alle hoffen darauf, bald die ersehnten Pakete aus den USA in den Händen zu halten. Selbst diejenigen, die materielle Unterstützung selbst gar nicht so dringend nötig hätten. An den Demos seit dem 23. haben so viele Menschen teilgenommen, wie seit vielen Jahren nicht. Und egal, wie sich die Regierung verhält, sie wird in der Frage auf jeden Fall verlieren: Blockiert sie die Hilfslieferungen an der Grenze, steht sie als grausam da. Lässt sie sie aber ins Land, muss sie zugeben, dass sie ein Problem hat, das sie selbst nicht lösen kann. So wird aus dem Hunger ein Spiel um Macht. Ob es den Anfüher*innen der Mobilisierungen dabei wirklich so sehr um die Not der Armen geht, ist dabei noch die Frage. Immerhin sind die meisten von ihnen in der Politik, lange bevor Chávez regierte. Willams Dávila zum Beispiel, der den riesigen Marsch gegen den Hunger am 2. Februar in Mérida anführte, hat zu seinen Zeiten als sozialdemokratischer Gouverneur bewiesen, dass ihn die Versorgungslage der sozial Schwachen herzlich wenig interessiert.
Auch der Chavismus spielt mit dem Hunger. Als Reaktion auf die Selbsternennung Guaidós als Interimspräsident schickte die Partei die „lokalen Kommitees für Versorgung und Produkion“ (CLAP) los, um Unterschriften für Maduro zu sammeln. Wenn eine Person nicht unterschreiben wollte, dann wurde ihr gesagt, dass sie künftig keine Essenspakete mehr erhalten würde. Diese fast geschenkten CLAP – Kisten sind für die meisten Familien aber ein unverzichtbarer Beitrag zum Überleben geworden. Ob sich der Chavismus mit diesem Vorgehen viele Freunde macht, ist zu bezweifeln. Die meisten unterschreiben wohl, aber zurück bleibt ein unterdrückter Zorn, dass mit so elementaren Bedürfnissen wie dem Essen Machtpolitik betrieben wird.

Juan Guaidó, der sich in einer etwas mutwilligen Interpretation der Verfassung zum Übergangspräsidenten ausgerufen hat, ist kein gemässigter Demokrat. Seine Partei Voluntad Popular steht am äussersten rechten Rand der venezolanischen Parteienlandschaft, ihr Programm ist die ungehinderte Entfaltung des Marktes und die politische und kulturelle Anlehnung an die US-Republikaner. Parteichef Leopoldo López, der einer Oligarchenfamilie entstammt, die sich in vorchavistischen Zeiten an der staatlichen Erdölfirma PDVSA illegal bereichert hatte, sass lange im Knast, weil er 2014 zum gewaltsamen Sturz des Chavismus aufgerufen hatte. Aber vertritt er wirklich eine Mehrheit der Venezolaner*innen? Auch wenn er momentan auf breite Zustimmung zählen kann, weil die Menschen von der Krise schlicht müde sind und einfach nur noch einen Wechsel wollen, egal wie, entspricht seine politische Linie wohl kaum den allgemeinen Vorstellungen von der Zukunft des Landes. Alle Umfragen sagen: Die Menschen wollen ein Ende des Chavismus, weil er seine Versprechen nicht mehr einlöst, aber sie wollen einen Sozialstaat, keinen wilden Kapitalismus. Wenn aber Maduro tatsächlich zugunsten Guaidós abdanken würde, wäre die plausibelste Folge, dass López als Kandidat der rechten Opposition zur Wahl aufgestellt wird, da es seine Partei war, die den Wechsel herbeigeführt hat. Und es ist sehr wahrscheinlich, dass dieser, zusammen mit der freundlichen Hilfe seiner internationalen Verbündeten, dafür sorgen würde, dass es für die sicher schnell anberaumten Neuwahlen keine wählbare Vertretung der unabhängigen Linken gäbe. Denn dass diese bis heute über keine legale Parteistruktur verfügt, dafür hat der Chavismus gesorgt, mit Repression und juristischen Winkelzügen. Im Resultat wäre es wohl eine Regierung im Stile von Trump und Bolsonaro, die die „Rückkehr in die Demokratie“ durchführen würde.
Es ist ja völlig offensichtlich, dass der Chavismus alle Legitimation verloren hat und unfähig ist, das Land aus der schweren Krise herauszuführen, in die er es manövriert hat. Selbst ein Sack Kartoffeln würde besser regieren als diese abgewirtschaftete mafiöse Clique. Man kann sogar der Meinung sein, dass in der jetzigen Situation eine neoliberale Regierung für die Menschen das kleinere Übel wäre, weil sie die Märkte öffnen und Hilfslieferungen zulassen würde. Aber es ist von da ein grosser Schritt, sich für einen Machtwechsel zugunsten einer Wirtschaft der Reichen für die Reichen zu begeistern, wie es derzeit in der ganzen Welt Leute bis weit ins fortschrittliche Lager tun, die es gar nicht mehr erwarten können, dass Guaidó endlich anerkannt wird. Bei der jetzigen Verteilung der Karten gehört die arbeitende Bevölkerung nicht zu den Gewinner*innen, egal welche der beiden Seiten sich durchsetzt.

Die Bildung eines Parallelstaates, wie sie von der Opposition und ihren internationalen Verbündeten vorangetrieben wird, mit einem obersten Gerichtshof im Exil, einer Generalstaatsanwaltschaft im Exil und jetzt auch einem Schattenpräsident, zielt entweder auf das Einknicken des Chavismus, oder darauf, schlussendlich in einer bewaffneten Auseinandersetzung zu münden. Ersteres könnte geschehen, wenn die Militärs durch generöse Angebote wie Amnestie und Legalisierung ihrer Beute dazu gebracht würden, die Seiten zu wechseln. Ausserdem müssten Russland und China mitspielen, denn diese haben ein Interesse an der Wahrung des Status Quo, so lange die massiven Schulden, die Venezuela bei ihnen hat und die grösstenteils auf juristisch fragwürdiger Grundlage zustande kamen, nicht derart abgesichert werden, dass sie vor einem internationalen Schiedsgericht anerkannt würden. Wir dürfen wohl davon ausgehen, dass diesbezüglich frenetische Verhandlungen hinter den Kulissen laufen. Wir können nur raten, was dabei heraus kommt, informieren wird man uns darüber sicher nicht. Falls es dabei aber nicht zu einem Ergebnis kommt, bleibt nur noch Krieg. Siehe Syrien. Es ist unverantwortlich, so mit dem Schicksal von Millionen Menschen zu pokern.
Sinnvoller scheint uns da der Vorschlag der Plataforma para el Rescate de la Constitución zu sein, ein Zusammenschluss von unabhängigen Linken und ehemaligen Chavist*innen, die ein Plebiszit vorschlagen, in dem die Bevölkerung entscheidet, ob sie allgemeine Neuwahlen will, einschliesslich der Neubesetzung des Obersten Gerichtshofes und der Wahlkommission. Dafür Druck zu machen wäre sicher demokratischer, als die Bestätigung eines selbsternannten Interimspräsidenten voranzutreiben. Stattdessen hat man in den letzten Wochen den Eindruck, dass sogar vernünftige Leute von der permanenten Bombardierung durch die Medien so aufgeputscht sind, dass die Anerkennung von Guaidó für sie zur Existenzfrage wird.

Über eines sollten die Befürworter*innen einer radikalen Lösung sich klar sein: Ein gewaltsamer Konflikt im Land würde in erster Linie nicht die Regierung und Parteikader treffen, sondern das chavistische Fussvolk, an dem sich der rechte Mob austoben würde. Der Vorrat an Waffen und angestautem Hass im Land ist gewaltig, und die Partei hat bisher keinerlei Vorkehrungen für den Schutz ihrer Basis getroffen. Einen Vorgeschmack davon konnte man am 23 Januar in Mérida erleben, als Jugendliche, die dem Aufruf zum Protest gefolgt waren, im Schutz der Barrikaden einen geistig verwirrten Mann erst anschossen und dann, noch lebendig, verbrannten. Der Grund: Sie hatten ihn für einen Chavisten gehalten.

Der Beitrag der venezolanischen Opposition zur Konsolidierung der lateinamerikanischen Rechten

Jahrzehntelang hatte in Venezuela eine gesellschaftliche Gruppe regiert, die ziemlich genau dem entsprach, was André Gunder Frank als „Lumpenbourgeoisie“ bezeichnet hatte: eine parasitäre Klasse ohne gesellschaftsveränderndes Potenzial, die ihre eigene Unterwerfung unter die bestehenden Weltmarktverhältnisse beförderte und im Inneren durch Parteien repräsentiert wurde, die sich politisch nicht scharf voneinander abgrenzten, sich im Amt abwechselten und dafür sorgten, dass die Extraktion der Rohstoffe in den Norden reibungslos verlief, ohne die reichlichen Einnahmen aus dem Erdölgeschäft zur Industrialisierung Venezuelas zu nutzen. Einen guten Teil steckten sie in ihre eigene Tasche, einen kleinen Teil streuten sie unter’s Volk, um die Leute bei Laune zu halten.
Dann kam Chávez und fegte sie von der politischen Bühne und den Töpfen hinweg, um fortan ein ähnliches Modell zu betreiben, nur dass der Teil, der unter den Armen verteilt wurde, jetzt ungleich grösser war, was auch durch die hohen Ölpreise möglich wurde. Begleitet wurde diese Umverteilung des Volkseinkommens zugunsten der einkommensschwachen Bevölkerungsschichten von einem sozialistischen Diskurs und einer Aussenpolitik, die sich gegen die Dominanz der USA und des reichen Nordens wandte und statt dessen auf eine Allianz des armen Südens setzte, in erster Linie der Länder Lateinamerikas und der Karibik.
Es ist unklar, ob man den Chavismus als „links“ bezeichnen sollte. Schliesslich ist seine wirtschaftliche Praxis, jenseits des Diskurses, nach wie vor kapitalistisch und extraktionistisch, und innerhalb des immer stärker werdenden militärischen Flügels gibt es ausgeprägte antikommunistische Tendenzen.
Klar ist dagegen, dass der dominierende Teil der Opposition weit rechts steht: Anhänger*innen eines vollkommen unregulierten Marktes, die ihren Rassismus nur mühsam verstecken und den ranzigsten Figuren der internationalen Rechten hofieren. Ihr wilder Hass auf den Chavismus ist nicht nur daraus zu erklären, dass er ihnen die Henne mit den goldenen Eiern weggenommen hat, sondern auch, dass er die unteren Klassen aufgewertet und ihnen ein bis dato unvorstellbares Selbstbewusstsein gegeben hat.
Ein weiterer Teil der Opposition, leider sehr minoritär, steht weit links vom Chavismus: Enttäuschte ehemalige Chavist*innen, Gerwerkschafter*innen, Trotzkist*innen, Anarchist*innen, Ökos und andere. Auf sie bezieht sich dieser Artikel nicht. Es geht uns um die venezolanische Rechte.

Kritische Chavist*innen haben oft im Scherz behauptet, das einzige, was die Regierung noch im Amt halte, sei die Opposition. Der Satz enthält Wahrheit. Es ist beeindruckend, wie systematisch und hartnäckig die venezolanische Rechte politische Chancen verspielt und durch ihr fanatisches und unüberlegtes Auftreten dem Chavismus in die Hände gespielt hat.
Schon kurz vor Chávez‘ Tod 2013 fingen die Erdölpreise an, einzubrechen, die Inflation begann auszuufern und die Subventionen für Nahrungsmittel, die einen bedeutenden Teil der Bevölkerung dazu gebracht hatten, ihre bisherige Arbeit aufzugeben und sich dem lukrativeren Weiterverkauf von Nahrungsmitteln nach Kolumbien zu widmen, waren kaum noch zu finanzieren. Als Maduro das Ruder übernahm, verschlechterte sich die Situation zusehends. Eine Weile noch hielt die Treue zum verstorbenen „Ewigen Kommandanten“ die chavistische Basis bei der Stange, aber die zunehmende Verschlechterung der Lebensverhältnisse und die offensichtliche Unfähigkeit von Maduro, geeignete Massnahmen zu deren Verbesserung zu treffen, liess die Stimmung bald kippen. Im Frühjahr 2014 startete die Oppsition ihren ersten Versuch, Maduro zu stürzen. Mit der Strategie der „Guarimba“, also der Sperrung von Strassen durch Barrikaden in den grossen Städten und dem Ausrufen von „befreiten Zonen“ in Stadtteilen der Mittelschicht, beabsichtigte der ultrarechte Flügel der Opposition unter Leopoldo López und María Corina Machado, eine bürgerkriegsähnliche Situation zu provozieren. Vermutlich war das Kalkül, dass nach einer ausreichenden Zahl von Toten ausländische Kräfte intervenieren oder Teile der Streitkräfte die Seiten wechseln würde. Weder der eine noch der andere Fall traten ein. Die Regierung liess die Guarimba wüten, unternahm fast nichts, um die „befreiten“ Stadtteile zurück zu erobern und liess es in vielen Fällen sogar zu, dass Sicherheitskräfte und Sympathisant*innen beim Abräumen von Barrikaden erschossen wurden. Nach ein paar Monaten hatten die Aufständigen fast die ganze Gesellschaft gegen sich, weil sie die Barrikaden in Mautstellen verwandelten und Geld für das Betreten oder Verlassen der fraglichen Zonen verlangten, Passanten angriffen und die Barrikaden teilweise sogar an gewöhnliche Kriminelle vermieteten. Selbst hartgesottenste Oppositionelle waren irgendwann nur noch angewidert, und im Juni 2014 konnte die Guardia Nacional die Barrikaden ohne Gegenwehr abräumen.
Danach war für eine Zeit Ruhe. Die Opposition war von ihrer Führung enttäuscht, Maduro versuchte durchzustarten und lancierte eine Reihe von unsinnigen Massnahmen, die die Situation nicht verbesserten sondern im Gegenteil immer weiter verschlimmerten. Unfähig, die Ursachen seines Scheiterns zu begreifen, wiederholte er mechanisch alles, was Chávez schon gemacht hatte, allerdings unter anderen Bedingungen und mit einer damals prall gefüllten Kasse. Ein Jahr später war die Stimmung wieder am brodeln.

Gegen Ende 2015 spürte die venezolanische Opposition Rückenwind. Die Parlamentswahlen rückten näher, der Ruf nach Veränderung war allgegenwärtig, und in einem bis dato unbekannten Anflug von Geschlossenheit verständigte man sich auf einheitliche Kandidaturen. Das Ergebnis war durchschlagend. Zum ersten mal in 15 Jahren durchbrach die Opposition die Hegemonie des Chavismus und besetzte zwei Drittel der Sitze im Parlament. Eine neue Ära schien heraufzuziehen.
Aber es wurde nichts daraus. Der Chavismus reagierte entschlossen und ohne sich an die Spielregeln zu halten. In einer Nacht- und Nebelsitzung besetzte das scheidende Parlament den obersten Gerichtshof in einem illegalen Eilverfahren neu mit Figuren aus ihren Reihen. Anfang Januar 2016 erklärte dieser Gerichtshof die Wahl von vier Abgeordneten für ungültig, wodurch die Opposition ihre absolute Mehrheit verlor. In Folge annulierte er fast ausnahmslos alle Beschlüsse, die die neue Nationalversammlung fasste. Die Regierung verhängte den „ökonomischen Ausnahmezustand“ und regiert seitdem per Sonderdekrete ohne das Parlament. Innerhalb eines knappen Jahres demontierte der Chavismus mit Hilfe der ihm gefügigen Institutionen den gesamten legalen Rahmen der Republik. Und die Opposition? In ihrem anfänglichen Siegestaumel schien sie die reale Situation komplett zu verkennen. Während mehrerer Monate stritten die Abgeordenten untereinander, nach welchem Verfahren man Maduro am besten aus dem Amt heben solle: Mit vorgezogenen Neuwahlen (die verfassungsrechtlich nicht existieren); per Berufung auf den Verfassungsartikel 350, der die Nichtanerkennung eines autoritären Regimes vorsieht; mithilfe der Anfechtung der Nationalität des Präsidenten, der Venezolaner sein muss, um das Amt bekleiden zu können; oder durch das in der Verfassung vorgesehene Abwahlreferendum zur Hälfte der Amtszeit. Unfähig, sich auf eine gemeinsame Richtung zu einigen, wurden alle Verfahren ausprobiert, aber keines mit einer nachhaltigen Strategie konsequent zuende geführt. Die einzig zweifelsfrei legale Methode, nämlich das Abwahlreferendum, war den meisten, die Maduro sofort loswerden wollen, zu langwierig und anstrengend und wurde daher erst Anfang Mai 2016 angegangen. Als der Antrag auf das Abwahlreferendum, dem seitens der Obersten Wahlbehörde unvorhergesehene, zusätzliche Auflagen in den Weg gelegt wurden, schliesslich Erfolg hatte und die Unterschriftensammlung zu seiner Aktivierung in vollem Gange war, annullierten am 20. Oktober 2016 fünf lokale Gerichte die Aktion in ihren Bundesstaaten, ohne die juristische Kompetenz in diesem Bereich zu besitzen. Die Oberste Wahlbehörde ordnete sich absurderweise dem Urteil der Landesgerichte unter und damit war das Abwahlreferendum vom Tisch. Auf dieses als Verfassungsbruch bewertete Manöver antwortete die Opposition mit landesweiten Protestmärschen (Toma de Venezuela) und dem Aufruf zu einer Grossdemonstation ihrer Anhänger vor dem Regierungssitz Miraflores Anfang November. Die Stimmung im Land war auf dem Siedepunkt. Die Regierung schien ernsthaft bedroht. Doch überraschenderweise sagte die Opposition kurz darauf auf Bitten des Vatikans die geplante Grossdemonstration wieder ab, um sich erneut an den Verhandlungstisch mit der Regierung zu setzen. Politisch bedeutete das praktisch das Aus für das oppositionelle Wahlbündnis MUD. Ein grosser Teil ihrer Basis empfand das als Verrat und wandte sich von ihm ab.

Die durch eine fehlende, einheitliche Strategie geschwächte Opposition war auch den Herausforderungen des Jahres 2017 nicht gewachsen, umso mehr, als sich der Chavismus zunehmend jenseits der Verfassung oder in ihrer Grauzone liegender Methoden bediente. Der Stein des Anstosses, der die Ereignisse ins Rollen brachte, waren zwei Urteilssprüche Ende März, in denen der Oberste Gerichtshof die Immunität der Parlamentarier einschränkte und sich die Kompetenzen des venezolanischen Parlaments anmasste, was zum einem öffentlichen Einspruch der Generalbundesanwältin vor laufenden Kameras gegen diesen Verfassungsbruch und einem nachfolgenden Scheingefecht zwischen den Gewalten führte, in dessen Verlauf die Inexistenz der Gewaltenteilung in Venezuela offensichtlich wurde. Das wiederum verschaffte der Opposition Aufwind für die Wiederbelebung ihres Protestpotenzials und einen erweiterten Handlungsspielraum, um der „internationalen Gemeinschaft“ den illegitimen und zunehmend undemokratischen Charakter der venezolanischen Regierung nahezulegen. Die von Maduro am ersten Mai angekündigte Einberufung einer „Verfassungsgebenden Versammlung“, welche über „supra-konstitutionelle“ Kompetenzen verfügen und somit die de facto existierende Aufhebung der Gewaltenteilung in Venezuela und die Annullierung des Parlaments besiegeln würde, befeuerte die erneuten Strassenproteste und -aktionen der Opposition, die sich sich von April bis Juli 2017 hinzogen (1) und sich zum Ziel setzten, das Zustandekommen der Verfassungsgebenden Versammlung um jeden Preis zu verhindern. Dennoch wurden am 30. Juli deren Mitglieder gewählt, die natürlich ausschliesslich dem Regierungslager angehörten, da die Opposition die Wahl boykottierte, den Wahlvorgang nicht einmal kontrollierte und so die Regierung deren Ergebnisse nach Gutdünken manipulieren konnte (2). Mit dem Tag des Inkrafttretens der Verfassungsgebenden Versammlung am 4. August fielen die Strassenaktionen in sich zusammen. Wieder einmal hatte Opposition keine Antwort auf die neu geschaffenen Tatsachen.

Im Juli hatte das Parlament, als Reaktion auf die Beraubung seiner legalen Funktionen durch den Obersten Gerichtshof, 33 Richter für die Konstituierung des sogenannten „Legitimen Obersten Gerichtshofes“ ernannt. Doch die meisten der frisch eingeschworenen Richter setzen sich fast umgehend nach ihrer Berufung ins Ausland ab oder traten gleich von ihrem Amt zurück, nachdem der chavistische Oberste Gerichtshof ihre Ernennung als Hochverrat beurteilte und ihre Festnahme anordnete. Seitdem kommt der „Oberste Gerichtshof im Exil“ gelegentlich mit dem Ziel zusammen, die Demontage demokratischer Strukturen und die Verstösse gegen Menschenrechte seitens der venezolanischen Regierung der internationalen Gemeinschaft zu Gehör zu bringen und eine „legale“ juristische Instanz aufzubauen, auf die im Falle einer letztendlichen Auslandsintervention in Venezuela zurückgegriffen werden könnte. Diese Art von Strategie, die sich im Grunde ausländischen Interessen andient und per Denunziation auf eine Militärintervention des Auslands setzt, stösst jedoch keinesfalls auf ungeteilte Sympathie im Lager der Opposition.

Der endgültige Todesstoss für die venezolanische Rechte aber war ihre Entscheidung, nicht an den Präsidentschaftswahlen im Mai 2018 teilzunehmen und stattdessen zum allgemeinen Wahlboykott aufzurufen. Hier ist die letzte Chance auf einen Wahlsieg wie derjenige der Parlamentswahlen vom Dezember 2015 verspielt worden. Ein einheitlicher Kandidat und eine massive Beteiligung der oppositionellen Wählerbasis hätten, im Angesicht einer krisenmüden und veränderungshungrigen venezolanischen Bevölkerung, den Durchbruch schaffen können. Das venezolanische Wahlsystem ist so konstituiert, dass Betrug nicht möglich ist, sofern die darin enthaltenen Kontrollmechanismen wahrgenommen werden. Möglicherweise hätte der Chavismus wieder auf den ein oder anderen pseudolegalen Trick zurückgegriffen, um das Ergebnis nicht anzuerkennen. Aber die Opposition hätte dann über einen legitim gewählten Präsidenten verfügt und damit eine ganz neu Basis für den weiteren Kampf gehabt. So führte der Wahlboykott zur Konsolidierung von Maduro’s Macht.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die venezolanische Opposition dank des notorischen Fehlens einer einheitlichen Strategie und entschiedenen Durchsetzungsvermögens, weit davon entfernt ihren politischen Gegner zu schwächen oder gar zu besiegen, diesen im Gegenteil sogar noch gestärkt hat. Dagegen hat das Regierungslager, besonders in den letzten drei Jahren, erfolgreich Methoden der Opposition übernommen, nämlich das Operieren am Rande bzw. jenseits der Verfassung und des Gesetzes. Ironischerweise hat die venezolanische Rechte durch ihren ungewollten Beitrag zur Konsolidierung der autoritären Regierung Maduro indirekt zum allgemeinen Rechtsruck in Lateinamerika beigetragen. Venezuela ist zum abschreckenden Beispiel der gesamten Region geworden. Überall zeigen die Neoliberalen mit den Fingern auf Venezuela, um die Alternativlosigkeit ihres eigenen Modells zu beschwören: „Da könnt ihr mal sehen, wohin der Sozialismus führt.“
Obwohl der venezolanische „Sozialismus“ zu keinem Zeitpunkt die Eckpfeiler des Kapitalismus – ökonomische Ausbeutung, politische Unterdrückung, soziale Diskriminierung und menschliche Entfremdung – überwunden hat, wird so wieder einmal ein Gesellschaftsmodell diskreditiert, das eine Alternative zur Ausbeutung des rückständigen Südens durch den reichen Norden darstellen könnte.

Anmerkungen
(1) Die Bilanz des Venezolanischen Observatoriums Sozialer Konflikte aus den Protestmonaten April bis Juli ergab 6729 Proteste im ganzen Land und 163 Tote.
(2) Am 2. August denunzierte der Hersteller der Hard- und Software der Wahlmaschinen, Smartmatic, Datenmanipulation seitens der Obersten Wahlbehörde bei den Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung und stellte seine Operationen in Venezuela im März 2018 ein.

Die Wirtschaftskrise in Venezuela und das Massnahmenpaket Maduros: Kurskorrektur oder Kontinuität?

Als “Massnahmenpaket des Scheiterns”, so bezeichnet ‚Erdöl-Zar‘ Rafael Ramírez, ehemaliger Direktor des venezolanischen Erdölkonzerns PDVSA und Erdöl-Minister, sowie ehemaliger ständiger Vertreter Venezuelas vor den Vereinten Nationen, den von Präsident Nicolás Maduro am 17. August diesen Jahres angekündigten und seit dem 20. in Durchführung befindlichen „Plan zur Erholung der Wirtschaft“, den er als Eingeständnis Maduro’s eigener Unfähigkeit wertet, das Land rechtzeitig aus der hausgemachten Katastrophe zu steuern. Ramírez, seit 2002 im Kabinett des 2013 verstorbenen Präsidenten Chávez und einer seiner engsten Mitstreiter, stand von 2004 bis 2014 dem PDVSA Konzern vor – der zentralen Schaltstelle der venezolanischen Wirtschaft, die für inzwischen 96% der Deviseneinkünfte des Landes aufkommt. Unter seiner Amtszeit fand ein Prozess der Neuverhandlung von Verträgen mit über 30 internationalen Erdölkonzernen im Rahmen einer Umstrukturierung der Erdölförderungs- und Einkommenspolitik Venezuela’s statt, welche die souveräne Verfügung über die Erdölressourcen und die direkte Finanzierung der Sozialausgaben aus Erdöleinkommen zugunsten der venezolanischen Bevölkerung garantieren sollte. Darin bestand im wesentlichen die wirtschaftliche Basis des „Bolivarianischen Sozialismus“. Nachdem er kurzzeitig unter der Regierung Maduro als Vizepräsident des Ministerrats für Wirtschaftsangelegenheiten und als Aussenminister tätig gewesen war, trat Ramírez im Januar 2015 sein Amt als ständiger Vertreter Venezuelas vor den Vereinten Nationen an, dessen er Anfang Dezember 2017 im Zusammenhang mit Korruptionsvorwürfen enthoben wurde. Inzwischen ist ein internationaler Haftbefehl gegen ihn angestrengt worden. In zahlreichen Artikeln, die Ramírez seither auf dem Nachrichtenportal Aporrea veröffentlicht hat, beteuert er, wegen seiner Kritik an Maduro’s Regierungsführung in Ungnade gefallen und Opfer einer politischen Hexenjagd geworden zu sein. Er beschuldigt die Regierung Maduro, das Erbe von Präsident Chávez verraten und dessen sozialistisch orientiertes Gesellschaftsmodell durch einen „abhängigen, wilden Kapitalismus“ ersetzt zu haben, wie ihn nicht einmal die so verpönte Vierte Republik gekannt habe. (1)

Hausgemachte Katastrophe
Venezuela erlebt die schlimmste Wirtschaftskrise seiner Geschichte. Die seit 2003 bestehende Währungskontrolle mit ihren zahlreichen, wechselnden Systemen der Zuweisung von Devisen zum Vorzugspreis an ausgesuchte Wirtschaftsakteure, und die später hinzukommende Regulierung von Nahrungsmittel- und Konsumgüterpreisen haben über lange Jahre hinweg obszöne Bereicherungsmechanismen, Schwarzhandel, Spekulations- und Mangelwirtschaft sowie ausgesprochen mafiöse Operationsstrukturen geschaffen, mittels welcher dem Land in den vergangenen 15 Jahren Werte von annähernd 500 Milliarden US Dollar entzogen worden sind und für die bis heute kaum ein Verantwortlicher zur Rechenschaft gezogen worden ist. (2)
Seit fünf aufeinanderfolgenden Jahren weist Venezuela die weltweit höchste Inflationsrate auf. Laut Daten der Wirtschaftskommission des venezolanischen Parlaments belief sich die Inflation von Mai 2017 bis Mai 2018 auf 24.571% und ist damit die höchste in einem Jahreszeitraum gemessene in der Geschichte Lateinamerikas. Seit November 2017 befindet sich das Land in einer Spirale der Hyperinflation, mit monatlichen Inflationsraten weit über 50% und seit Mai diesen Jahres über einhundert Prozent. Projektionen für die akkumulierte Jahresinflation für Ende 2018 liegen zwischen 735.583% (nach Berechnungen des venezolanischen Ökonomen Manuel Sutherland), und 1.000.000% (Prognose des IWF). Des weiteren hat Venezuela im nunmehr sechsten aufeinanderfolgenden Jahr ein zweistelliges Haushaltsdefizit, finanziert durch die Emission von inorganischem Geld durch die venezolanische Zentralbank BCV, wodurch die Inflation befeuert wird. Laut eigenen Angaben hat die BCV die Geldmenge allein im Zeitraum 2016 bis Juni 2018 um 16.347% ausgeweitet; und im weiter zurückliegenden Zeitraum zwischen 1999 und 2018 um unvorstellbare 18 Millionen Prozent. Der Schwarzmarktdollar, an dem sich die Preisbildung sämtlicher Güter in Venezuela seit Jahren ausrichtet, ist allein 2018 über 3500% in seinem Wert gestiegen.(3) Die Einkommen sind durch die Inflation in einem Masse pulverisiert worden, dass der Mindestlohn nicht einmal mehr ausreicht, um die physische Arbeitskraft zu reproduzieren. Dies ist der Grund für die Emigration vieler Venezolaner*innen in die lateinamerikanischen Nachbarländer, laut Angaben der UNO bisher 2,3 Millionen.
Die durch die Politik der Vorzugsdevisen hoch subventionierten Importe haben systematisch jeden produktiven Anreiz in Landwirtschaft und Industrie unterdrückt und zu rückläufiger Produktion und einer massiven Deindustrialisierung des Landes beigetragen. Viele Ökonomen sprechen von einer regelrechten Zerstörung des Produktionsapparates.(4) Inbegriffen in diesem düsteren Panorama ist das Rückgrat der venezolanischen Wirtschaft, der Erdölsektor, der 96% der Exporteinnahmen des Landes bestreitet und in den letzten Jahren aufgrund gefallener Weltmarktpreise für Erdöl und fehlender Investitionen einen dramatischen Produktionsrückgang von 2,31 Millionen b/d im Jahre 2015 auf 1,34 Millionen b/d im Juni diesen Jahres erfahren hat (5), womit das Produktionsniveau auf den schlechtesten Stand seit 30 Jahren gesunken ist. Nun muss Venezuela, erdölproduzierendes Land mit den weltweit grössten Reserven, Benzin importieren, weil die staatlichen Raffinerien weit unter ihrer Auslastung arbeiten und weder den nationalen Markt ausreichend bedienen, noch das extra schwere Rohöl aus dem Orinoco-Ölgürtel für den Export verarbeiten können. Es kommt immer öfter zu Verarbeitungsausfällen wegen Mangel an Lösungsmittelkomponenten, die importiert werden müssen. Der Raffinerie-Komplex Paraguaná, bestehend aus den Raffinerien Cardón und Amuay, der bei voller Auslastung 955.000 Barrel Erdöl täglich raffinieren könnte, arbeitet mit lediglich 30% seiner Kapazität. Nach Angaben der Energy Information Agency musste PDVSA im Juni diesen Jahres täglich 133.500 Barrel leichtes Erdöl und Derivate aus den USA importieren, was die ohnehin prekäre Finanzlage des Konzerns zusätzlich belastet und womit nun Erdölimporte einen ansehnlichen Anteil seiner Produktionskosten ausmachen.(6)

Staatsbankrott
Die Regierung verfügt über immer weniger Devisen. Die Erdöleinkünfte sind von 72 Milliarden Dollar im Jahre 2015 auf 28 Milliarden Dollar im Jahre 2017 zurückgegangen (7) und die internationalen Reserven haben mit weniger als 8,6 Milliarden US Dollar ihren Tiefststand in 20 Jahren erreicht.(8) Damit, und auch aufgrund der US Wirtschaftssanktionen gegen Venezuela, ist die Regierung Maduro nicht nur in Fragen Kreditaufnahme und Bedienung ihrer diversen Auslandschuldenposten eingeschränkt – die gesamte venezolanische Aussenverschuldung beläuft sich auf 154,273 Milliarden Dollar (9) – sondern ebenso was die Importe anbelangt, unter anderem, um den gravierenden Mangel elementarster Güter wie Nahrungsmittel und Medikamente im Lande zu mildern.

Die Massnahmen:
Währungs- und Steuerreform
Am 20. August trat ein Massnahmenpaket in Kraft, das mit der Korrektur verschiedener Variablen der venezolanischen Wirtschaft ihre strukturellen Verzerrungen zu bekämpfen beabsichtigt. Darunter fallen eine Lockerung der Wechselkursbeschränkungen und die Währungsreform, in deren Rahmen der Nominalwert des Geldes um fünf Nullen vermindert und über die Einführung einer Kryptowährung “Petro”, die als Verrechnungseinheit fungiert, an den Weltmarktpreis für Erdöl gebunden ist. Durch die Zueignung eines Ölfelds an die venezolanische Zentralbank soll die Verankerung der neuen Währung am Rohstoff Erdöl “materiell besiegelt” werden und entspricht einer Art Hypothek auf venezolanische Rohstoffvorkommen. Die Einführung der neuen Währung “Bolívar Soberano” (Souveräner Bolívar), kurz BsS., entsprach einer schweren Abwertung und der gleichzeitigen Anerkennung des jahrelang in Abrede gestellten Schwarzmarktdollars “Dolar Today”, indem die Regierung den aktuellen Schwarzmarktkurs zum Ausgangspunkt und Richtwert des Wechselkurses der neuen Währung nahm.
Die Verankerung des Bolívar Soberano am Erdöl bzw. “Petro” beabsichtigt formell, die Finanzierung des Haushaltsdefizits durch die Emission inorganischen Geldes zu beschränken. (Maduro hatte im Rahmen einer seiner Tiraden gegen die “kriminelle, vom Wirtschaftskrieg induzierte” Inflation zugegeben, dass die Zentralbank auf Anweisung der Regierung massiv inorganisches Geld ausgegeben hat.) Das impliziert, wenn ernst genommen, allerdings auch die Einfrierung der Löhne und die Reduzierung der Sozialausgaben. Da aber die Erdölproduktion eine stark rückläufige Tendenz aufweist und der Petro keine Vertrauensbasis geniesst, ist es fragwürdig, ob die angestrebte Nulldefizit-Politik sowohl technisch durchführbar als auch sozial verantwortbar ist. Bereits die nächste Massnahme, die Erhöhung der Löhne um das 60-fache mit dem Ziel, die Kaufkraft der arbeitenden Bevölkerung wiederherzustellen und die gleichzeitige Ankündigung der Regierung, für drei Monate allen Privatunternehmen die durch die Erhöhung entstandene Lohndifferenz zu finanzieren, ist ein eklatanter Widerspruch zur angeblich angestrebten neuen Haushaltsdisziplin, ebenso wie der “Währungsreformbonus”, der allen im System “Heimats-Ausweis” registrierten Venezolanern (10) in Gestalt eines einmaligen Betrags von 600 BsS. ausbezahlt wurde. In der Absicht, Investitionen anzuziehen und die Versorgung des Binnenmarkts mit dringend benötigten Gütern zu garantieren, begünstigt die Steuerreform venezolanische Privatimporteure und transnationale Konzerne durch einen kompletten Steuererlass (der zu Lasten der Staatseinnahmen geht), wohingegen die arbeitende Bevölkerung über die Erhöhung der Mehrwertsteuer von 12 auf 16% zur Kasse gebeten wird.

Preisbindungen
Die Preise von einigen der wichtigsten Konsumgütern, in erster Linie Grundnahrungsmitteln sind weiterhin festgelegt, jetzt allerdings auf dem ungefähren Niveau des bisherigen Schwarzmarktpreises, der oft um ein Hundertfaches über dem staatlich festgelegten Preis lag. Obwohl in der Vergangenheit auf die Einhaltung der Preisbindung keine grösseren Energien verwendet wurden, soll jetzt riguros die Einhaltung der Preise durchgesetzt werden. Mit welchem Instrument das geschehen soll, etwa der durch und durch korrupten SUNDEE, der vorgesehenen Instanz zur Preiskontrolle, die in der Regel bei ihren Kontrollbesuchen von Märkten lediglich Bestechungsgelder kassiert und die überhöhten Preise nicht beanstandet, bleibt unklar.

Benzinpreise
Angesichts der desolaten Haushaltslage hat Präsident Maduro das Ende der Subventionen für Benzinpreise und deren Angleichung an internationales Niveau angekündigt. Der Verlust, den das praktisch geschenkte Benzin den Staat jährlich kostet, beläuft sich auf Milliardenbeträge und die staatliche Erdölgesellschaft PDVSA kann vom Verkauf nicht einmal die Produktionskosten decken.(11) Ferner hat die krasse Preisdifferenz zum Nachbarland Kolumbien über Jahre hinweg den Benzinschmuggel befördert und Venezuela weitere Verluste in Milliardenhöhe bereitet. Noch ist nicht klar, wie hoch nun tatsächlich der neue Benzinpreis ausfallen soll, und für wen, alldieweil die Regierung die Subventionierung nicht aufgekündigt, sondern an die Bedingung der Einschreibung der Fahrzeugbesitzer in ein nationales Register und in das Heimats-Ausweis-System geknüpft hat, womit der angestrebten Politik der Einsparungen und der Haushaltsdisziplin eine weitere Pointe genommen wäre. (12)

Löhne und Gehälter
Der Mindestlohn wird ab dem 1. September von rund 25 BsS. Auf 1800 BsS. erhöht. Ein durchaus respektabler Anstieg. Dazu kommt noch ein Zuschlag in Form von Essensgutscheinen (die in der Regel aber in Geld ausgezahlt werden) von 180 BsS. Wichtig ist hier die Relation von Lohn zu Essensgutscheinen: Bisher betrugen die Essensmarken weit mehr als der eigentliche Lohn, während jetzt das eigentliche Einkommen ca. 91% ausmacht. Das ist wichtig, weil für die Berechnung von Abfindungen und anderen Arbeitnehmeransprüchen lediglich der Lohnanteil herangezogen wird, nicht der Essenszuschuss. Hier wurde also eine entscheidende Verzerrung korrigiert, die bis dahin Arbeitnehmerrechte eingeschränkt hatte. Zusätzlich bekommt jedeR Bürger*in im Besitz des Carnet de la Patria („Heimatsausweis“) eine einmalige Zahlung von 600 BsS., um die Umstellung auf die neuen Preise zu erleichtern.
Der neue Mindestlohn ist hoch genug, um für eine Familie mit drei Kindern zumindest die notwendigen Nahrungsmittel zu bestreiten, während das bisherige Mindesteinkommen gerade mal für ein Kilo Käse gereicht hatte. Zwei Fragen stellen sich dabei: Wird der Lohn seine Kaufkraft behalten, und wie sollen die Arbeitgeber*innen diesen gewaltigen Anstieg verkraften?
Beginnen wir mit dem zweiten. Obwohl es im allgemeinen nicht im Zentrum unseres Interesses steht, ob die Kapitalisten denn auch genügend Gewinn machen können, liegt es im Fall der rezessiven venzolanischen Wirtschaft nahe, sich zu fragen, woher denn das Geld kommen soll, das diese neuen Löhne bezahlt, und ob dieser drastische Anstieg nicht zu weiteren massiven Firmenschliessungen führen wird, da Entlassungen von Arbeitnehmer*innen derzeit gesetzlich verboten sind. Offenbar hat auch die Regierung sich diese Frage gestellt und angekündigt, während drei Monaten die komplette Zahlung aller Löhne zu übernehmen, die der privaten Firmen und selbst die der informal beschäftigten. Wenn sie das tatsächlich durchführt, woran viele zweifeln, sollte das den ersten Aufprall der drastisch gestiegenen Betriebskosten dämpfen und den Firmen Gelegenheit geben, sich auf die neue Situation einstellen. Doch das Problem ist damit nicht gelöst, nur verschoben. Nur durch brutale Preiserhöhungen werden die allermeisten Betriebe in der Lage sein, weiter mit Gewinn zu wirtschaften, und damit wird natürlich weiter an der Inflationsschraube gedreht. Diejenigen Firmen, die den Kostenanstieg nicht verkraften und pleite gehen, werden die Schere zwischen wachsender Geldmenge auf der einen Seite und dem schwindenden Angebot von Gütern und Dienstleistungen auf der anderen weiter vergrössern und auch dadurch die Inflation befeuern.
Am wahrscheinlichsten aber ist, dass nach der Gnadenfrist von drei Monaten die Inflation die Lohnerhöhungen weitgehend annuliert haben wird, so dass die Arbeitgeber*innen ihren Lohnabhängigen wiederum monatlich den Gegenwert eines Kilos Käse bezahlen werden. Und damit können sie leben.
Wer nicht davon leben kann, sind natürlich die Arbeiter*innen. Alle Prognosen deuten darauf hin, dass die neuen Massnahmen den Verfall ihrer Kaufkraft nicht aufhalten werden, sondern dass der Wertverfall der Landeswährung sogar noch beschleunigt wird. In den vier Wochen seit der Einführung der Massnahmen haben sich die Preise schon wieder verdoppelt. Schon lange leben in Venezuela arbeitende Menschen nicht mehr von ihrem Lohn, der oft gerade noch für die Fahrtkosten zum Arbeitsplatz ausreicht. Ohne die Lebensmittelpakete (CLAP) und die verschiedenen Geschäftchen ausserhalb ihrer offiziellen Arbeit wären die meisten schon verhungert. Viele verlassen ihren Arbeitsplatz, oft ohne zu kündigen, und gehen ins Ausland. Zahlreiche Stellen für qualifiziertes Personal sind mittlerweile unbesetzt.
Natürlich sind die drastischen Lohnerhöhungen seitens der Regierung gut gemeint. Es ist aber nicht zu erwarten, dass die Kaufkraft, die damit puktuell etabliert wird, lange vorhalten wird. Das wäre nur der Fall, wenn es innerhalb des Massnahmenpakets Initiativen gäbe, die die Produktion im Land erhöhen würden. Und das ist nicht der Fall, im Gegenteil. Wahrscheinlich werden die Lohnerhöhungen zu weiteren Betriebsschliessungen führen.

Der Petro
Die Stütze des neuen Währungssystems soll die „Kryptowährung Petro“ darstellen, die im Februar diesen Jahres lanciert wurde, offensichtlich als Reaktion auf das Verbot der USA, mit venezolanischen Staatsanleihen zu handeln. Der Petro soll eine Werteinheit darstellen, die über digitale Verschlüsselungsmechanismen anonym gehandelt werden kann und über das geplante Ölfeld „Ayacucho“ an der Faja Petrolera del Orinoco abgesichert sein soll: So soll jeder Petro einem der 5,3 Millonen zertifizierten Barrel Schweröl entsprechen, das in jenem bisher unerschlossenen Gebiet einmal gefördert werden soll. Der Petro soll, wie andere Kryptowährungen auch, digital „geschürft“ werden können, allerdings unter Aufsicht und nach vorhergehender Zulassung durch eine staatliche Aufsichtsbehörde (Superintendencia de los Criptoactivos de Venezuela, bisher nur existent in Form eines Twitter-Accounts). Die erste Frage, die sich stellt, ist ob der Petro tatsächlich eine Kryptowährung ist, oder nicht eher eine Krypto-Staatsanleihe. Immerhin erfüllt er eines der wesentlichen Charakteristika einer Währung nicht, nämlich Mittel zum Austausch von Gütern und Dienstleistungen zu sein. Bisher kann man den Petro nirgends ausgeben, und in der dazugehörenden Software, dem Petro-Wallet, ist eine Funktion zum Verkauf von Petros unter Dritten nicht einmal vorgesehen. Es wäre also gar nicht möglich, dass eine Person einer anderen Petros auf ihr Wallet überweist, wie bei anderen Kryptowährungen.
Warum überhaupt die Möglichkeit des Schürfens vorgesehen ist bei einer zentral verwalteten Währung, ist nicht einsichtig. Bei den gängigen Kryptowährungen erfüllt das Schürfen die Funktion, einen Anreiz für die einzelnen Nutzer*innen dafür zu schaffen, Rechnerleistung zur Verfügung zu stellen, um die Transaktionen dezentral, also ohne die Notwendigkeit des Rechenzentrums einer Bank, abwickeln zu können. Wozu wird beim Petro geschürft, wenn er doch gegen eine Zahlung von 60 Dollar zentral ausgegeben werden soll?
Die nächste Frage ist, ob es sich beim Petro wenigstens um eine funktionale Krypto-Staatsanleihe handelt. Einsichtig ist ja, dass die Besitzer*innen anonym bleiben, um Sanktionen dürch die US-Verwaltung zu umgehen. Sinnvoll scheint auch, die Anleihe an einen konkreten Wert zu binden, nämlich ungefördertes Schweröl, der die Sicherheit geben soll, dass die Anleihe irgendwann auch zurückgezahlt werden kann. Allerdings fehlt dem Petro ein wichtiger Anreiz, den konventionelle Wertpapiere bieten, nämlich die Aussicht auf Gewinn. Üblicherweise haben Staatsanleihen eine festverzinste Laufzeit, nach deren Ablauf sie wieder gegen Geld eingetauscht werden können. Dass es sich beim Schuldner um einen Staat handelt, soll dem Papier noch eine besondere Sicherheit geben, denn Staaten verschwinden nicht so einfach. Der Petro hat weder eine Laufzeit noch ein Gewinnversprechen. Ausserdem ist es unklar, ob bei einem Wechsel der Regierung der Petro überhaupt noch eingelöst werden könnte: nach venezolanischem Recht ist der Petro nämlich illegal. Die Verfassung sieht in Artikel 318 vor, dass es nur eine offizielle Währung gibt, nämlich den Bolivar. Und Artikel 12 verbietet ausdrücklich, die Erdölreserven des Landes in Garantie zu geben. Ob also eine Nachfolgeregierung den Wert des Petros anerkennen würde, ist fraglich. Fraglich ist damit auch der Wert dieses Instruments als Beschaffer von Devisen für den Staat.
Möglicherweise ist sein Sinn eher im internationalen Kontext zu sehen, nämlich zur Umgehung des Dollars als Reservewährung und als Teil der Konstruktion einer neuen weltweiten Finanzstruktur. Noch wahrscheinlicher allerdings ist, dass es sich wie in vielen anderen Fällen um eine Improvistaion handelt, deren konkrete Umsetzung niemand so richtig durchdacht hat, inspiriert durch den sagenhaften Aufstieg des Bitcoins, wo unter Verwendung eines öffentlichen Gutes (Strom) ohne Arbeit aus dem Nichts Dollar generiert werden.

Sparprogramm in Gold
Eines der Probleme bei einer gallopierenden Inflation ist ja, dass es keinen Sinn macht, für schlechte Zeiten oder eine grössere Anschaffung Geld auf die Seite zu legen. Als die Leute noch etwas über hatten und nicht alles für Essen ausgaben, kauften sie deshalb üblicherweise Wertgegenstände, um sie bei Bedarf wiede zu verkaufen. Oder es wurden Dollars auf dem Schwarzmarkt gekauft. Beides generiert keine Zinsen, aber doch wenigstens den ungefähren Erhalt des Gesparten. Ein Punkt der Wirtschaftsreformen besteht deshalb im Angebot, vom Staat in der Landeswährung Goldbarren in kleinsten Ausgaben von 1,5 und 2,5 g kaufen zu können. Soweit scheint das eine gute Idee zu sein. Allerdings gibt es auch hier wieder einen entscheidenden Haken in der Umsetzung. Den Käufer*innen wird kein Gold ausgehändigt, sondern ein Blatt Papier, auf dem steht, dass sie Besitzer*innen der entsprechenden Goldmenge sind und der Staat sich verpflichtet, ihnen dieses Gold nach 90 Tagen wieder abzukaufen. Den Betrag dafür wird der Staat festsetzen, und wir dürfen getrost vermuten, dass es sich nicht um den Weltmarktpreis handeln wird, sondern dass der Wiederverkaufspreis höchstens geringfügig höher sein wird als der Kaufpreis, was sich bei der bestehenden Inflation in Verlust umsetzt. Ob es viele Interessierte für diese Goldzertifikate geben wird, ist also zweifelhaft.

Die Wirksamkeit der Massnahmen
Natürlich war es längst überfällig, etwas Ordnung in die desolate venezolanische Wirtschaft zu bringen. Gerade die Erhöhung des Benzinpreises wenigstens auf seine Produktionskosten hätte vor vielen Jahren stattfinden müssen, und es ist weder unter ökonomischen noch unter ökologischen Kriterien nachvollziehbar, warum ein Staat jährlich Milliarden Dollar für die Subventionierung von fossilem Kraftstoff ausgibt, anstatt beispielsweise für Fahrräder oder Schuhwerk. Doch wie die Preiserhöhung umgesetzt werden soll, bleibt unklar, und nach wie vor sollen ja venezolanische Fahrzeuge weiterhin fast umsonst betankt werden, nur der Schmuggel ins Ausland soll eingedämmt werden.
Die anderen Massnahmen stellen keine wirkliche Neuerung dar. Die Währungskontrolle wird beibehalten, nur dass der Staat selbst jetzt keine Devisen mehr anbietet, was er in den letzten fünf Jahren sowieso kaum noch gemacht hat. Dafür sollen jetzt Privatleute untereinander ihre Dollars in Bolivar tauschen, zu einem Kurs, den die Regierung festlegt, und der schon nach wenigen Wochen nach der Einführung des neuen Regelwerks fast die Hälfte des Schwarzmarktkurses ausmacht. Hier wird also nicht viel passieren.
Auch die Preisbindungen werden beibehalten, wenn auch auf einem wesentlich höheren Niveau. Ohne eine wirksame Bürokratie, die die Preise auch durchsetzen kann, bleibt das aber Wunschdenken, und wirkt eher als Produktionsbremse. Wer keine Lust hat, zum festgelegten Preis zu verkaufen, verkauft auf den vielen unregulierten Märkten und besticht zur Not von Zeit zu Zeit einen Vertreter der SUNDEE. In den Supermärkten dagegen verschwinden die preisregulierten Produkte. Es ist bemerkenswert, dass die Regierung nach so vielen Jahren immer noch auf eine nachweislich unwirksame bis kontraproduktive Massnahme setzt, ohne die Ursachen ihres bisherigen Scheiterns zu analysieren.
Alles in allem sind die Massnahmen zur Sanierung der Wirtschaft eher Propaganda als wirksame Instrumente. Man kann darüber streiten, inwieweit sich die Regierung dessen bewusst ist, oder ob sie schlicht in ihrer ureigenen Logik von Wirtschaftskrieg und imperialer Sabotage an ihren hehren Zielen gefangen ist und deshalb die Realitäten nicht erkennt. Da sie aber die Problemursachen offensichtlich nicht erkannt hat, sind von ihr auch keine nachhaltigen Lösungen zu erwarten. Die Inflation und der damit verbundene Rückgang der Kaufkraft werden durch diese MAssnahmen kaum gebremst werden.

Anmerkungen

(1) Das in Venezuela etablierte politische System bis zum Inkrafttreten durch Volksabstimmung der neuen Verfassung der Bolivarianischen Republik Venezuelas im Jahre 1999)

(2) Eine Untersuchung der politischen Organisation Marea Socialista aus dem Jahre 2014 über Kapitalflucht in Venezuela kommt zu diesem Ergebnis, und die Organisation fordert seitdem die Einberufung einer öffentlichen Untersuchungskommision zur Feststellung des genauen Ausmasses der Kapitalflucht sowie die Identifizierung und Bestrafung der Verantwortlichen. Die Finanzkommission des 2015 gewählten, mehrheitlich oppositionell besetzten und von der Regierung seiner zentralen Kompetenzen beraubten Parlaments, schätzt die Summe auf einen Betrag zwischen 350 und 400 Milliarden Dollar.

(3) Die Zahlen sind einer Veröffentlichung des venezolanischen, marxistischen Oekonomen Manuel Sutherland auf dem Nachrichtenportal Aporrea vom 1.08.2018 entnommen: Hiperinflación, industria, dinero en efectivo y salarios en Venezuela (Hyperinflation, Industrie, Bargeld und Löhne in Venezuela)

4) Berechnungen des venezolanischen Oekonomen Manuel Sutherland zufolge ist die nationale Produktion im Zeitraum 2013-2018 um 45% zurückgegangen.

(5) Nach Angaben der Organisation Erdölexportierender Länder (OPEC), zitiert in Alesssandro Di Stasio, Ingreso de PDVSA en caída: perdió más de 500 mil barriles en seis meses (Einkommen von PDVSA im Fall: um mehr als 500.000 Barrel pro Tag in 6 Monaten zurückgegangen), veröffentlicht auf dem Nachrichtenportal Efecto Cocuyo am 11. Juli 2018

(6) Die Angaben sind einem Interview des digitalen Nachrichtenportals Efecto Cocuyo mit dem Oelarbeitergewerkschafter Iván Freites vom 3. September 2018 entnommen.

(7) Nach Angaben des Oekonomen und Direktors des venezolanischen Finanzberatungsinstituts, Alejandro Grisanti, zitiert in Di Stasio, op.cit.

(8) Manuel Sutherland, op.cit.

(9) Quelle: Síntesis Financiera, zitiert in: Alejandro Grisanti, ebenda.

(10) Laut Angaben der Regierung sind es 16 Millionen eingetragene Venezolaner, Stand: April 2018. Das Sistema Carnet de la Patria (Heimatlandausweissystem) ist ein von der venezolanischen Regierung 2017 eingerichtetes Instrument zur Zuteilung von Sozialhilfe an eingetragene Empfänger, die zumindest zu Beginn dieses Mechanismus in ihrer politischen Ausrichtung mehrheitlich auf Regierungsseite standen.

(11) Der Oekonom Asdrúbal Oliveros von der Finanzberatungsfirma Ecoanalítica, beziffert den Verlust im Jahre 2017 auf 5,5 Milliarden Dollar; für 2015 habe die Benzinsubventionierung das dreifache der öffentlichen Ausgaben für Erziehung, Gesundheit und Soziales betragen.

(12) Laut Regierungsangaben hatten sich in knapp 20 Tagen nach der Ankündigung der Anhebung des Benzinpreises auf internationales Niveau bereits 3 Millionen Venezolaner in das neue Fahrzeug-register und das damit verbundene Heimatland-Ausweis System eingetragen. Die wenigsten Fahrzeugbesitzer könnten es sich wohl leisten, bei einem angenommenen Durchschnittspreis von 1,2 Dollar pro Liter Benzin und einem 40 Liter-Tank, der eine Woche ausreicht, 48 Dollar (oder 4600 Bolívares Soberanos) pro Tankfüllung zu bezahlen, in einem Land in dem der Mindestlohn (nach der Währungsreform) bei 30 Dollar monatlich liegt.

Drohnen-Attentat der Rechten oder “False Flag” Operation?

Der Anschlag mit Sprengstoff – Drohnen auf Maduro und Teile seines Kabinetts und Generalstabs hat heftige Kontroversen über seine Authentizität ausgelöst. Auf der einen Seite die Mainstream – Medien und die venezolanische Opposition, die daran zweifeln, ob das Attentat überhaupt stattgefunden habe oder sogar behaupten, die Regierung selbst hätte es ausgeführt. Auf der anderen Seite die Anhänger*innen des Chavismus, die an einen Mordversuch glauben und sich über den Doppelstandard empören, der Tag aus, Tag ein den Terrorismus verurteilt, aber süffisant darüber witzelt, wenn es einen politischen Gegner trifft. Wir haben hier eine kleine Denkübung veranstaltet, die es erleichtern soll, sich eine Meinung dazu zu bilden, ob es sich um einen wirklichen Anschlag auf die chavistische Regierung handelt oder um eine “false flag operation”, die die Regierung zu politischen Zwecken selbst organisiert hat: Beide Positionen stellen ihre Argumente dar, am Schluss wird abgewogen.

“Das angebliche Drohnen – Attentat ist von der Regierung selbst inszeniert!”
– “Es macht doch gar keinen Sinn, Maduro umzubringen. Wenn Maduro tot wäre, würde sofort ein anderer das Kommando übernehmen, wahrscheinlich Diosdado Cabello, und im Vergleich zu dem ist Maduro ein nettes Kerlchen, eigentlich der ideale politische Gegner: Nicht besonders intelligent, tollpatschig und vollkommen unfähig, das Land zu regieren. Der Chavismus wäre durch das Ausfallen von Maduro überhaupt nicht in Gefahr, und sein Tod würde die chavistische Basis, die von ihrer Führung weitgehend enttäuscht ist, wieder stärker an das Projekt binden, weil er einen Märtyrer schafft. Und die rechte Gruppe um Cabello würde sich ins Fäustchen lachen. Die Opposition kann also kein Interesse an einem Mord Maduro’s haben.”
– “Der Chavismus braucht interne Kohäsion und einen Vorwand für Repression, um die von Maduro angekündigten grossen Reformen durchzusetzen, die ab dem 20. August in Kraft treten sollen. Der vermeintliche Anschlag ist ein grosses Ablenkungsmanöver, um die nötige Stimmung zu schaffen, um die erwarteten Proteste gegen diese Reformen niederzuschlagen.”
– “Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass der Chavismus bei der Ausführung des Attentats selbst seine Hände im Spiel hatte. So sind zwei der vermeintlichen Attentäter ehemalige Mitglieder der Widerstandsgruppe soldados de franela (“T-Shirt-Soldaten”) um den Ex-Polizisten Oscar Pérez, der einige spektakuläre Aktionen ausgeführt hat und dann in einem Schusswechsel mit Sicherheitskräften Anfang dieses Jahres getötet wurde. Oscar Pérez selbst aber hatte Ende letzten Jahres noch per Twitter vor diesen beiden Männern gewarnt, sie seien unzuverlässig und hätten dem Chavismus zugearbeitet.”
– “Die Attentäter haben sich doch angeblich minutiös und mit kompetenter Hilfe von Fachleuten auf den Anschlag vorbereitet. Wie kann es sein, dass sie dann nicht wussten, dass bei Veranstaltungen der Regierung von den Sicherheitskräften Störsender eingesetzt werden, die die Drohnen in der Nähe der Präsidentenbühne ausser Kontrolle geraten lassen? Das müsste heutzutage doch ein Sicherheitsstandard sein – warum wussten sie nichts davon?”
– “Schon Stunden nach dem Anschlag war das ganze Komplott aufgedeckt, die meisten Täter gefasst und geständig. Wie praktisch! Ausserdem war Maduro selbst nie in Gefahr. Das sieht doch sehr danach aus, dass das ganze eine Inszenierung war.”
– “Das gefilmte Geständnis von Juan Carlos Monasterios alias Bons scheint unecht, er plaudert lässig, sein Gesicht wird nicht gezeigt. Es scheint, dass da jemand freiwillig seine angebliche Beteiligung gesteht, der selbst nicht in Gefahr ist oder bedroht wird. Ein Schauspiel?”

“Der Anschlag war authentisch”
– “Es gibt für den Chavismus keinen politischen Anlass, um einen Anschlag auf Maduro und die militärische Führung zu inszenieren. Der Chavismus hat vor kurzem die Wahlen gewonnen, die Opposition hat sich im grossen und ganzen verabschiedet, im Land herrscht eine resignierte Stimmung, von Aufstand und Rebellion ist weit und breit nichts zu spüren. Ausserdem hat der Chavismus alle staatlichen Institutionen fest unter seiner Kontrolle, rechtstaatliche Mechanismen sind ausgehebelt, die Justiz ist gefügig, die Repressionsorgane machen, was sie wollen, ohne noch auf irgendwelchen institutionellen oder öffentlichen Widerstand zu stossen. Es gibt keinen Grund für den Chavismus, eine Stimmung erzeugen zu wollen, in der der Staat Gesetze und Repression verschärfen könnte, wie es beispielsweise in den USA nach den Anschlägen vom 11.9. der Fall war. Der Staat kann sowieso tun und lassen, was er will, es gibt keine relevanten Proteste mehr dagegen. Deshalb macht es auch keinen Sinn, einen Anlass dafür zu schaffen.”
– “Die Bilder des vereitelten Anschlags haben vielmehr für ungünstige Werbung gesorgt: Hunderte in Panik auseinanderstiebende Soldaten bieten nicht das Bild der Stärke, das der Chavismus von sich zeigen will. Der Eindruck war, dass die Regierung angreifbar ist.”
– “In ihrem ersten Tweet Stunden nach dem gescheiterten Anschlag behaupten die Soldados de Franela, dass sie versucht hätten, Maduro zu töten, dass die Drohnen mit C4 – Sprengladungen aber von Sicherheitskräften abgeschossen worden seien. Tatsächlich wurden sie aber nicht abgeschossen, sondern mithilfe von Störsendern vom Kurs abgebracht und gesprengt. Ausserdem kann C4 durch Gewehrschüsse nicht detoniert werden, es braucht dafür Initialzünder (mal ganz abgesehen davon, dass es wirklich nicht ganz einfach wäre, Drohnen im Flug abzuschiessen). Nun könnte man die Falschangabe der T-Shirt-Soldaten in ihrem Communiqué damit erklären, dass sie nicht wussten, warum die Drohnen explodierten, bevor sie ihr Ziel erreicht hatten, weil sie ja offensichtlich auch nicht wussten, dass in der Nähe der Tribüne Störsender eingesetzt waren, und sich die vermeintlichen Schüsse als plausible Erklärung für ihr Scheitern zurechtgelegt hatten. Hätte es sich aber um ein Selbst-Attentat der Regierung gehandelt, wäre dieser Irrtum gar nicht erst aufgetreten. Die Attentäter hätten dann ja gewusst, warum die Drohnen detoniert sind, und hätten sich nicht veranlasst gesehen, eine Erklärung zu konstruieren.”
– “Es gibt tatsächlich seit vielen Jahren in Kolumbien und den USA zahlreiche Leute, die gewalttätige Aktionen gegen den Chavismus geplant, durchgeführt und finanziert haben, und die aus ihren Tötungsabsichten gegen die chavistischen Kader nie einen Hehl gemacht haben. Das ist notorisch, das braucht man nicht zu erfinden. Auch die Art des Vorgehens ist üblich in diesen Kreisen: Ausführende junge Aktivist*innen, die von erfahrenen Leuten im sicheren Hinterland gesteuert und ausgerüstet werden. Selbst die fragwürdige Zielsetzung des Anschlagversuchs wundert bei diesen Leuten nicht. Sie haben in den vergangenen Jahren regelmässig alle Gelegenheiten sabotiert, den Chavismus tatsächlich zu entmachten, weil ihr Handeln offensichtlich von Hass geleitet wird und nicht von strategischem, politischem Denken. Und tatsächlich haben, abgesehen von den fragwürdigen Geständnissen der Verhafteten, mehrere dieser Leute den Anschlag bestätigt. So behauptet Salvatore Luccese in Bogotá, ein ehemaliger Gefangener und erklärter Gegener des Chavismus stolz, seinen Beitrag zum Attentat geleistet zu haben.”
– “Mal im Ernst, liebe Leute: Denkt ihr wirklich, die Chavisten wären in der Lage, so einen hochkomplexen Plan auszuführen, wie sie eine False-Flag-Operation bedeutet? Falls sie über diese intellektuellen und organisatorischen Kapazitäten verfügten, wären sie auch in der Lage, andere Probleme zu lösen, denen sie seit Jahren hilflos gegenüber stehen. In knapp 20 Jahren an der Regierung hat der Chavismus so gut wie alle fähigen Leute aus seinen Reihen verdrängt und durch inkompetente Duckmäuser ersetzt. Nicht, dass ihnen solch ein Betrug nicht zuzutrauen wäre, aber wären sie tatsächlich in der Lage, ihn auszuführen?”

Wer ständig lügt, dem glaubt man nicht…
Bei über 20 Anlässen hat Maduro seit seiner Amtsübernahme 2013 vermeintliche Staatsstreiche oder Mordanschläge gegen sich denunziert. Jedes mal hat er behauptet, die Beweise dafür zu haben, geliefert hat er sie nie. Sein Spruch “tengo las pruebas” ist schon ein geflügeltes Wort und erzeugt in der Regel nur noch gleichgültiges Achselzucken. Es ist also nicht weiter verwunderlich, dass selbst unter vielen Chavist*innen die erste Reaktion auf den Anschlag war: “So ein Quatsch, das waren die doch selbst.”
Aber es sieht so aus, als hätten die notorischen Lügner*nnen ausnahmsweise die Wahrheit gesagt. Alle Indizien sprechen dafür, dass es diesmal tatsächlich so war, wie von der Regierung dargestellt. Die zahlreichen falschen Angaben erklären sich leicht aus der gewohnten Grossmäuligkeit der radikalen Opposition, die Stümpereien bei der Durchführung und die schnellen Fahndungserfolge der Sicherheitskräfte sind Resultat einer fahrlässigen Methode, mit der diese Bewegung schon seit jeher operiert. Da werden junge fanatische Leute instrumentalisiert und verheizt, während die Drahtzieher*innen in der sicheren Nachhut sitzen und die Aktionen über Twitter anfeuern. Soweit nichts neues. Es ist zum Beispiel durchaus vorstellbar, dass der Abgeordnete Juan Requesens, der (wahrscheinlich unter Einsatz von Drogen) zugegeben hat, den Attentäter*innen auf Bitten des ehemaligen Parlamentsvorsitzenden Julio Borges beim Grenzübertritt nach Kolumbien geholfen zu haben, gar nicht wusste, worum es dabei eigentlich ging. Sonst hätte er, nachdem der Anschlag gescheitert war, sich vermutlich nicht einfach zuhause festnehmen lassen. Zeit genug, sich zu verstecken, hätte er gehabt.
Auch der angebliche Anlass für ein von der Regierung gegen sich selbst inszeniertes Attentat, nämlich die Wirtschaftsreformen vom 20. August, hat sich vor allem als nicht sehr spektakulär herausgestellt. Eine gigantische Abwertung des Bolivars und die Ankündigung einer drastischen Erhöhung des Benzinpreises ist die Essenz der “Reformen”. Der Kern des wirtschaftlichen Problems, nämlich die galoppierende Inflation und das enorme, durch die Emission unorganischen Geldes finanzierte Haushaltsdefizit auf der einen, und das dramatische Zurückgehen des Bruttosozialprodukts auf der anderen Seite, wird nicht angegangen, im Gegenteil. Die Entwertung des Bolivars um ca. 3600 %, die Erhöhung der Löhne um ca. 3500 % und das massive Verteilen von frisch hergestelltem Geld unter der Bevölkerung werden die Inflation noch stärker nach oben treiben und die vom IWF für 2018 prognostizierte Million Prozent noch als optimistisch erscheinen lassen. Dafür werden die alten Rezepte wieder ausgegraben, die sich schon in der Vergangenheit nicht haben umsetzen lassen, als die Bedingungen für ihre Anwendung noch besser waren: Vom Staat festgesetze Preise für Güter und Dienstleistungen und ein staatlich festgesetzter Wechselkurs für den Bolívar. Aber darüber mehr in einem nächsten Beitrag, der sich speziell mit den “Reformen” befasst.
Noch eine pikante Note zum Abschluss: In Mérida wurde im Zug der Fahndung nach den Hinterleuten des Drohnen-Anschlags auch Luis Martínez, ehemaliger Staatssekretär des letzten chavistischen Gouverneurs von Mérida, vom Sebin (politische Polizei) abgeholt. Luis Martínez war 2015 von einem alten linken Aktivisten, Alcedo Mora, im Zusammenhang seiner Untersuchung der im Erdölgeschäft operierenden Mafias und Briefkastenfirmen, der Korruption beschuldigt worden. Alcedo Mora verschwand spurlos, nachdem er beide, den Staatssekretär und auch den Gouverneur von Mérida, mit seinen Untersuchungsergebnissen konfrontiert hatte und im Begriff war, diese öffentlich zu machen. In einer seiner letzten SMS schrieb Mora, dass er vom Sebin verfolgt werde. War der PSUV-Kader Martínez tatsächlich am Anschlag auf Maduro beteiligt? Oder hat vielleicht der Sebin die Gunst der Stunde genutzt, um einen Mitwisser im Fall Alcedo Mora auszuschalten?

Kontakt: basuca@protonmail.com